mare-Salon

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Interview aus dem mare-Salon zum Verlagsprogramm

Probleme im Gepäck
Nietzsche und seine Begleiter am Meer: Andrea und Dirk Liesemer erzählen in „Tage in Sorrent“ vom Scheitern und Weitermachen

mare: Im Herbst 1876 reist Friedrich Nietzsche für sieben Monate nach Sorrent in Italien, eingeladen von der Schriftstellerin Malwida von Meysenbug. Ihn begleiten der Philosoph Paul Rée und ein junger Student. Was hat Sie an dem Stoff gefesselt?

Dirk Liesemer: Die vier wollten ja aus ihrem Leben aussteigen, wollten eine Akademie für freie Geister aus ganz Europa gründen – in einer Zeit, in der ein starker Nationalismus aufkam. Doch dazu kommt es nicht, und die Frage ist: Wie geht man damit um, wenn die Hoffnungen und Wünsche, die man hat, sich nicht realisieren lassen, man also scheitert?
Andrea Liesemer: Die vier reisen nicht nur mit ihren Hoffnungen ans Meer, sie haben auch ihre Probleme mit im Gepäck, und die lassen sich nicht einfach abschütteln. Das muss jeder auf seine Weise erkennen. Man könnte es allgemeiner fassen: Ein Leben läuft selten wie geplant – und nun? Das steht jedem von uns früher oder später bevor.

Wie haben Sie recherchiert?

A.L.: Die Recherche, besonders die vor Ort, hat im wesentlichen Dirk gemacht, weil er von Berufs wegen deutlich geschulter ist und er nicht sehbehindert ist, so wie ich. Nachdem er mir das Material vorgestellt hatte, ging es darum, aus diesem Rohmaterial heraus sich eine Geschichte auszudenken. Es ist ja ein Roman, kein Sachbuch.
D.L.: Ich war vor allem in Sorrent, habe mir angeschaut, in welcher Unterkunft die vier gelebt haben, war in der dortigen Region viel unterwegs – Nietzsche ist ja jeden Tag gewandert.

Sie haben mehr das Material geliefert und Ihre Frau die literarische Übersetzung?

A.L.: Tendenziell kann man sagen, dass Dirk mehr für die äußeren Landschaften zuständig war und ich mehr für die inneren, auch psychischen Landschaften. Das haben wir dann ineinander verwoben.
D.L.: Es geht um die philosophischen Gedanken Nietzsches, aber auch um seine Krankheiten. Bei Letzteren kennt sich Andrea als Ärztin viel besser aus.

Der kranke Mann spielt eine auffallend große Rolle in dem Roman.

A.L.: Nietzsche litt von Kindheit an unter Migräne und auch unter einer sehr starken Sehschwäche. Der Student Brenner als sein Sekretär war an Tuberkulose erkrankt; das war zu der Zeit nicht selten, so wie es üblich war, gegen die Tuberkulose in den Süden zu reisen – man kannte halt nicht ihre Ursache, man wusste nicht einmal, wie sie übertragen wird, geschweige denn, dass es eine Therapie gegeben hätte.
D.L.: Bei Nietzsche ist da der Gedanke, dass es das Schicksal des Intellektuellen ist, ob seiner hochfliegenden Gedanken geistig zu erkranken. Dazu kommt der Topos, dass man im Süden gesund wird; wobei „der Süden“ nicht nur geografisch, sondern auch historisch und philosophisch zu begreifen ist.

Im Leben von Nietzsche ist alles Kunst, ist alles bedeutsam?

D.L.: Beim Wandern, beim Betrachten der Landschaft philosophiert er. Am Schreibtisch kann er nicht philosophieren. Er braucht die Bewegung und die Anregung von außen. So hat er in Sorrent das Material für sein Werk „Menschliches, Allzumenschliches“ zusammengetragen. Auch die anderen drei waren in dieser Gemeinschaft sehr produktiv.

Man sagt ja oft: Ein historischer Stoff kreist tatsächlich um ein Gegenwartsthema. Ist das auch bei Ihnen der Fall?

D.L.: Ich würde mich scheuen, einen historischen Stoff zu sehr auf die Gegenwart zu beziehen. Interessanter ist es, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie es Ende des 19. Jahrhunderts wohl gewesen ist. So haben wir versucht, uns in das christliche Denken der Malwida von Meysenbug hineinzuversetzen, und sie nicht etwa zu einer Feministin zu stilisieren, die sie nur in überschaubarem Maß war.
A.L.: Was Menschen tun, wenn sich der eigene Lebensentwurf nicht verwirklichen lässt, ist ein überzeitliches Thema. Damit mussten sie sich in vergangenen Jahrhunderten herumschlagen, das beschäftigt sie heute, und damit müssen sie sich in der Zukunft abmühen. 
Das Gespräch führte Frank Keil.

Andrea und  Dirk Liesemer: „Tage in Sorrent“, mareverlag, 256 Seiten

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mare No. 150Februar / März 2022

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