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Empfehlungen aus Literatur, Musik, Film und Kulturleben

Sinfonia Antarctica
Klirrende Kälte und langsames Sterben im Wintersturm, von Vaughan Williams musikalisch umgesetzt

Schon der Titel deutet es an: Ralph Vaughan Williams’ „Sinfonia Antarctica“ ist Programmusik, Musik, die Bilder evoziert und Handlungen beschreibt. Auf Anhieb ist nicht leicht zu erkennen, welche. Darum hat der Komponist jedem der fünf Sätze kurze Texte beigegeben: Zitate der englischen Lyriker Shelley (1792–1822), Coleridge (1772 – 1834) und Donne (1572–1631), einen Psalmenvers aus der King James Bible und einen Satz aus dem letzten Tagebuch des Südpolfahrers Robert Falcon Scott (1868–1912). Dieser letzte Satz des Sterbenden gibt einen Hinweis auf die literarische Vorstellungswelt, die der musikalischen Schilderung zugrunde liegt. Er lautet: „Ich bedaure diese Reise nicht. Wir gingen Risiken ein, und wir wußten es, die Umstände haben sich gegen uns gewendet, deswegen besteht kein Anlaß für Beschwerden.“

Am 1. Juni 1910 stachen Kapitän Scott und seine Begleiter auf der „Terra Nova“ von England aus in See, um als erste Menschen den Südpol zu bezwingen. Im Januar 1911 erreichten sie Kap Evans am äußersten Rand der Antarktis, am 24. Oktober 1911 brach die Gruppe Richtung Pol auf. Jeden zweiten Tag deponierte sie Zelte, Nahrung und Wärmespeicher für die Rückkehr. Um den Ballast gering zu halten, kehrten nach und nach Teile der Mannschaft zur Ausgangsstation zurück. Schließlich erreichten fünf Auserwählte am 18. Januar 1912 das Ziel – und fanden die norwegische Flagge. Roald Amundsen war ihnen um 34 Tage zuvorgekommen. Auf dem Rückweg überraschte ein verfrühter Wintersturm die entkräfteten Männer. Sie konnten das nächste Depot nicht mehr erreichen und warteten in ihren Schlafsäcken auf den Tod.

Bis in die letzten Stunden hielt Kapitän Scott die Ereignisse als Expeditionsleiter minuziös in seinem Tagebuch fest. Die Suchtrupps fanden es im nächsten Frühling bei den Leichen im Eis. Auf dieser Grundlage drehte Charles Frend 1948 den Farbfilm „Scott of the Antarctic“, für den Ralph Vaughan Williams die Musik schrieb. Den Erneuerer der englischen Musik bewegte das Thema so sehr, daß er beschloß, aus demselben musikalischen Material eine Sinfonie zu schreiben, die 1953 vom Hallé Orchestra unter Sir John Barbirolli uraufgeführt wurde.

Wie nun Vaughan Williams diese antarktische Welt mit musikalischen Mitteln darstellt, ist schlichtweg hinreißend. Der erste Satz deutet nicht nur das drohende Unheil an, sondern fängt mit unverbrauchter Orchesterpalette auch die klirrende Kälte des ewigen Eises ein. Dem Spiel der belebten Tierwelt gilt der überschwengliche zweite Satz. Vaughan Williams hat hier Motive aus der Filmsequenz „Wale“ verwendet. Wer mag, kann die schweren Säuger im Eismeer sich tummeln hören, während sich durch alle Bläsergruppen der watschelnde Gang der Pinguine zieht, die sich schließlich in hellen Scharen ins Wasser stürzen. Der dritte Satz schildert den mühsamen Gletscheraufstieg der Expedition, der schwermütige vierte die letzten Gedanken der Todgeweihten, die den daheimgebliebenen Angehörigen gelten. Der Epilog faßt die Tat der Entdecker in einem gebrochenen Triumphmarsch zusammen und kehrt schließlich zur eisklirrenden Atmosphäre des Anfangs zurück, zum Sieg der unbewegten Natur.

Drei ausgezeichnete Aufnahmen sind derzeit im deutschen Handel erhältlich. André Previns Aufnahme von 1968 mag den anderen beiden vorzuziehen sein. In ihr hört man die meisten Details. Bryden Thomson arbeitete 1989 mit demselben Klangkörper, dem London Symphony Orchestra, die atmosphärischen Qualitäten der Partitur dicht und beklemmend heraus. Einziger Mißgriff ist hier das Orgelsolo, das im Widerspruch zu seiner Bedeutung als Höhepunkt des dritten Satzes aufnahmetechnisch unverhältnismäßig in den Hintergrund gerückt wurde. Vernon Handley versuchte 1990 mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra eine über weite Strecken sehr überzeugende Synthese aus analytischer Detailarbeit und atmosphärischer Magie, ließ sich dabei aber zu manchem plakativen Effekt verleiten, der den Wert seiner Aufnahme einschränkt. Boris Kehrmann

Vaughan Williams: „Sinfonia Antarctica“. London Symphony Orchestra, André Previn, BMG 74321 29248. London Symphony Orchestra, Bryden Thomson, Chandos 87 96. Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, Vernon Handley, Emi CD-EMX 2173


Eisgeschichten für Normaltemperierte
Christine Reinke-Kunze liebt die Kälte: sie schrieb einen antarktischen Reiseführer und ein umfassendes Eisbuch

Um einen kleinen Etikettenschwindel handelt es sich beim Titel „Maritimer Reiseführer Antarktis“ schon. Vom Reisen direkt in die und in der Antarktis ist in dem 264 Seiten starken Buch herzlich wenig die Rede. Weder strotzt das Buch von Informationen, an welcher Stelle mutige Yachtreisende am besten im Ross- und Weddellmeer oder an der Antarktischen Halbinsel anlanden könnten, noch gibt es Tips, wie man sich auf dem sechsten Kontinent selbst fortbewegen könnte. Und in Sachen Kreuzfahrten hält sich der Reiseführer sowieso vornehm zurück. Aber wer interessiert sich wirklich für diese Destinationen, die seit Jahr und Tag für teures Geld vor allem angesteuert werden, weil sich all das so extrem anhört und es noch weiter südlich nicht geht?

Geht es uns Normaltemperierten, wenn wir von Seereisen in antarktischen Gefilden träumen, nicht sowieso viel eher um ein paar Breitengrade weniger als den bewußten 90sten, der eigentlich gar keiner mehr ist: den geographischen Südpol, der letztlich – weil kontinental – maritim sowieso nicht erreichbar ist? Eine imaginäre, rein mathematische Größe, deren Erreichen eher etwas für Übermenschen wie Scott und Messner ist!

Die allermeisten Inseln, aus denen die diesseitigen Abenteuer gemacht sind, liegen zwischen dem 45. und jenem 66. Breitengrad, der erst die Grenze zur Antarktis markiert. Doch sie genießen – sympathischerweise, wenn auch im Widerspruch zum Buchtitel – die besondere Aufmerksamkeit der Autorin Christine Reinke-Kunze: Falkland-Inseln, Südorkney-Inseln, Südgeorgien und achtzehn andere. Was sie gefühlsmäßig so reizvoll macht, und für uns Lehnstuhlreisende so anheimelnd, ist die Tatsache, daß all diese Eilande stets die letzten Stützpunkte des Lebens vor dem Eintauchen in die Unwirtlichkeit sind sowie immer wieder die ersten wirtlichen Rettungsinseln nach überstandenen lebensgefährlichen, vielmonatigen oder jahre-langen Abenteuern weiter südlich, die wir von der Lektüre über Shakleton (siehe Seite 130) und andere kennen.

Als Walfangstationen dienten die Inseln allesamt, die früher nur vorübergehend bewohnt waren und heute von den letzten Exoten europäischer Abstammung in südlichen Gefilden gehalten werden. Ihre Sehenswürdigkeiten: Seemannsfriedhöfe, Museen, von früheren Antarktisreisenden zurückgelassene Provianthütten, Vogelparadiese, alte Flugzeugwracks.

Die ausführlichste Reisebeschreibung dieser subantarktischen Gegenden, die in letzter Zeit erschien, erzählt uns ein paar Kleinigkeiten über die Inseln, deren unbekannte Existenz erst mehr Aufmerksamkeit erhielt, als im Sommer 1982 vor den Falklands britische und argentinische Kriegsschiffe klarmachten, daß es auch „dort unten“ um etwas zu kämpfen galt: nach dem Wal früher das Öl heute. Zugegeben: Sie erzählt auch über die Polarstation der Scott-Expedition von 1911/12, die heute noch auf der Ross-Insel zu besichtigen ist. Das Antarktislexikon und die Biographien der bedeutendsten Antarktisreisenden prädestinieren das Buch auch zum Nachschlagewerk für den Südpol.

Von Südseeinseln träumt man nicht mehr, man fährt hin. Von jenen viel süd-licheren Seeinseln und ihrem rauhen, sehnsuchtheischenden Charme dagegen träumt man. Das Hinfahren wird auch von grundsätzlich Interessierten immer aufgeschoben, es bleibt letztlich aus. Der „Maritime Reiseführer Antarktis“ hilft denen, die nicht hinfahren, beim Planen.

Was Sie schon immer über Eis wissen wollten – die Autorin erklärt es. Ein umfassender Anspruch liegt ihrem Eisbuch zugrunde: Eisberge, Speiseeis, Meereis, Eiszeit, Eisschränke, kaum etwas Gefrorenes, das der Autorin entgangen wäre. Doch was das Buch lesenswert macht, ist weniger seine Vollständigkeit in der Kälte, sondern die Methodik in der Erklärung. Beispiel: Meereis, auch Pfannkucheneis genannt. Nach Lektüre dieses Kapitels wissen wir, wie es sich in den Polarmeeren oder auch der Ostsee bildet, wie es schmeckt, wie es sich bewegt und anderweitig verhält.

Reinke-Kunze läßt uns an den Eisforschungen über die Jahrtausende teilnehmen, angefangen vom Fernhandelskaufmann Pytheas, der im Jahre 330 schon wußte: „Dort, wo das Meer dick geronnen ist, dort liegt das Ende der Welt.“ Weiter teilen wir das Staunen Fridtjof Nansens darüber, daß bei Grönland Spuren einer Schiffskatastrophe vor Ostsibirien gefunden wurden – Anlaß für den Norweger, sich mit seiner „Fram“ durchs Polareis driften zu lassen. Um der Natur der Eisberge auf den Grund zu kommen, zerbrechen wir uns gemeinsam mit Prinz Mohammed el-Feisal den Kopf, wie die gefrorenen Riesen als Trinkwasser in der Wüste Verwendung finden könnten. Insgesamt: ein im angenehmsten Sinne populärwissenschaftliches Buch. Ulli Kulke

Christine Reinke-Kunze: „Maritimer Reiseführer Antarktis“, Koehler, Hamburg 1997, 264 Seiten mit zahlreichen Illustrationen, 39,80 Mark

Christine Reinke-Kunze: „Die Packeiswaffel“, Birkhäuser-Verlag, Basel 1996, 328 Seiten, 49,80 Mark


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mare No. 11

No. 11Dezember / Januar 1998

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