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Landratten singen vom Leben auf See
Shanty-Chöre hat es auf Schiffen nie gegeben. Dafür sind sie an Land umso weiter verbreitet. Sogar im küstenfernen Odenwald intonieren sie den Seemannsblues

Wenn sich erwachsene Männer in gebügelte Matrosenanzüge zwängen, kann man dies auf den ersten Blick als eine der gängigen Fehlleistungen männlichen Modeverhaltens interpretieren. Wenn sie jedoch dazu steifbeinig hin und her schwanken und einer von ihnen dabei die Tasten eines Akkordeons drückt, wird es ernst. Es folgt ein mehrstimmiger Gesang, brummelnd und sehnsüchtig, der von den Segnungen des Alkohols berichtet und von der See, die eine Braut ist. Vorzugsweise wird dies auf asphaltierten Promenaden vor flanierenden Großstädtern dargeboten, aber auch auf Bootsmessen oder Betriebsfesten aufgeführt.

Der Shanty-Chor gilt als ein akzeptierter Ausdruck maritimer Empfindsamkeit, die zu keiner Zeit real gewesen sein dürfte. Auf Segelschiffen wurde früher durchaus gesungen – beim Ankerhieven, beim Segelsetzen –, um Arbeitsabläufe im Takt zu synchronisieren, doch erklang dieser Gesang in der Regel zweistimmig. Die an der Reeling in reinlicher Kleidung aufgereihte und hintereinander gestaffelte Männerriege entspringt jedoch der Operette. Chöre hat es auf Schiffen nie gegeben, das Singen von Arbeitsliedern endete zudem mit dem Aufkommen der Dampfmaschine.

Shanty-Chöre sind keineswegs auf die Küstenstreifen von Nord- und Ostsee beschränkt, vielmehr allerorten im Hinterland zu finden. Sie agieren im Weserbergland, links und rechts des Rheins, nahe Saarbrücken, in Berlin ebenso wie auf der Schweizer Seite des Bodensees. Um eine Begründung für dieses Tun sind die Aktiven nicht verlegen: „Durch unseren Ort fließt ein kleiner Fluss, die ,Lutter‘. Sie mündet in die Ems und bringt uns damit die Verbindung zum Norden“, rechtfertigen etwa die ostwestfälischen „Luttermöwen“ ihre Existenz.

Auch der Odenwald gehört nicht zu den akzeptierten Küstenregionen. Doch residiert hier ein Shanty-Chor, der tatsächlich einer Begegnung wert ist: der „Odenwälder Shanty Chor“. In mehr als zehn Jahren hat er sich zu regionaler Größe gemausert, spielt in großen Hallen und hat diese Konzerte für die Produktion von vier CDs genutzt.

Konzentrierte sich die Combo auf ihrer Erstlingsplatte „Kleine Fische“ (1992) noch darauf, englischsprachige Seemannslieder durchaus gekonnt und sparsam instrumentiert vorzutragen, beginnt mit der Live-CD „Hai-Live“ (1994) ein „Institut für spekulative Heimatgeschichte“ mit seinen Forschungsarbeiten. Seitdem meldet sich zwischen den Musikstücken ein Erzähler mit ruhiger und wohltönender Stimme. Enthüllt wird die Geschichte eines Schuhmachersohnes namens Schann Scheid aus Fränkisch-Grumbach, der sich im März 1830 aufmacht, nach Amerika auszuwandern. Auf diesem Weg, der sechs Mal um Kap Horn führt und 15 Jahre dauert, erlebt er allerlei Abenteuer, lernt jede Menge Seemannslieder, die sich mit seiner Rückkehr im ganzen Odenwald verbreiten und dessen bäuerlicher Kultur maritime Züge auferlegen. Anders gesagt: So wie der Odenwälder in die Welt geht, kommt die Welt in den Odenwald.

Auf der CD „Omerika!“ (1997) ist Schann Scheid ebendort angekommen. Er heuert auf einem Walfänger an, bereist den Mississippi mit seinem Schaufelraddampfer, der „Trashy Honk“; er durchquert das Land, segelt die Pazifikküste entlang und lebt mehrere Jahre auf Hawaii. Von all diesen Stationen bringt er Lieder mit, die der Odenwälder Shanty Chor heute pflegt. Bis zu 22 Sänger und Sängerinnen lassen sich von einer sechsköpfigen Bordkapelle begleiten. Dabei beweisen sie solide Sangeskünste, bedienen sich geschickt der Stilmittel des Folks und erzeugen so eine lebhafte und angenehme Atmosphäre bar jeder Peinlichkeit und Rührseligkeit, die die üblichen Shanty-Chöre so kennzeichnet.

Die in diesem Jahr erschienene CD „Walverwandtschaften“ widmet sich den letzten Lebensjahren Schann Scheids. Begleitet von Shantys und Seemannsliedern in sieben Sprachen – darunter Samoaisch, Italienisch, Deutsch und Odenwaldisch – bewirtet Schann Scheid seine Gäste aus Hammelbach, Kröckelbach, Klein- und Groß-Gumpen, Fränkisch-Grumbach sowie aus Übersee in einer typisch Oderwälder Seemannskneipe namens „Zum weißen Wal“.

Gemäß der Dramaturgie der Serie endet die Aufnahme damit, dass Schann Scheids Sarg zu Wasser gelassen wird. Abschließend heißt es: „Und er ward nie wieder gesehen.“ Ist es damit zu Ende mit der Odenwälder Shanty-Kultur? Wird nun wieder die olle Frage aktuell: „What shall we do with a drunken sailor?“ Keine Sorge, Freunde. Die Geschichte von Schann Scheid, seinen Mitstreitern und ihren Liedern ist noch lange nicht ausgeschöpft. Im Gegenteil: Die nächste Produktion wird den Titel tragen: „2001 – Odyssee im Odenwald“. Frank Keil

Odenwälder Shanty Chor: Die CDs „Kleine Fische“, „Hai-Live“, „Omerika!“ und „Walverwandtschaften“ sind über den Direktvertrieb des Textstudios Maser erhältlich (Habschstraße 6A, 69469 Meinheim, Tel. 06201/14014). Die Tourneedaten sind im Internet unter www.shantychor.de zu finden


Kein Weg führt nach Libyen
Ein Mann will auf das Meer Hinaus und muss doch immer wieder an Land – am falschen Ort

Alles muss besser werden, und das geht nur auf dem Meer, davon ist Pola Reuths Romanheld überzeugt – und kommt nicht weg. Seit neun Monaten schon hängt der junge Afrikaner im Hafen von Port Sudan am Roten Meer herum, schlägt sich als Haschisch-Kurier durch und wartet vergeblich auf das Schiff, das ihn von seinem Dasein als aus dem Nest gefallenes Landei erlösen möge.

„Ich glaube, es war Ahdel“, erinnert sich Reuths Ich-Erzähler, „der es mit ernster Miene und einem feierlichen Unterton aussprach: Warum gehen wir eigentlich nicht nach Libyen und versuchen dort unser Glück?“ – dorthin, wo vor kurzem Ghaddafis Revolution siegreich gewesen war, es Öl gab und gewiss auch Arbeit für angehende Seeleute.

Der Weg aufs Wasser gestaltet sich langwierig. Bis Reuths Reisender seine erste Heuer im ägyptischen Suez bekommt, hat er halb Nordafrika zu Fuß und auf dem Lastwagen durchquert, sich mit seinen Freunden überworfen und bei unzähligen Dorfscheichs angeklopft, um ein Lager für die Nacht zu erbitten.

Doch der nächste Schlamassel ist kaum mehr als einen Hafen weit entfernt: „Wir kamen aus Rumänien, das Schiff voll mit tiefgefrorenen Hähnchen für Beirut. Am Nachmittag des dritten Tags sahen wir Militärflugzeuge, die über der Stadt kreisten.“ Kurz darauf sind Schüsse zu hören: Israelische Jets beginnen, die palästinensischen Stadtteile Sabra und Shatila zu bombardieren. Schließlich landet der Mann, der nur aufs Meer wollte, als Milizionär der Befreiungsbewegung PLO am Strand der von Israel angegriffenen libanesischen Hauptstadt – nur um nicht wieder in Port Sudan zu landen.

„Libysche Träume“ ist eines der Bücher, bei denen der Leser vergisst, an der richtigen Station aus der U-Bahn auszusteigen. Das scheinbar aussichtslose, aber unbeirrte Sich-Hinbewegen auf ein kaum erreichbares Ziel hat Reuths Hauptfigur mit dem Expeditionsreisenden Mungo Park, dem Protagonisten von T. C. Boyles Afrikaroman „Wassermusik“ gemeinsam. Auch was den Sarkasmus betrifft, mit dem Reuth ihren sudanesischen Kohlhaas von Hafen zu Hafen scheucht, sind die libyschen Träume dem bösen Witz des einstigen Underground-Autors Boyle verwandt.

Die Autorin verweigert nicht nur ihrem Protagonisten den Namen; auch ihre eigene Identität bleibt im Dunkeln. Das Pseudonym von Pola Reuth, die in den achtziger Jahren Kunstfestivals organisierte, ist Mimikry und Programm zugleich: „Libysche Träume“ ist Instant-Literatur, schnell und subjektiv erzählt – mit den Ingredienzen, die wir aus dem angloamerikanischen Underground kennen: kraftvolle Momentaufnahmen und eine nie aufgelöste Ambivalenz, was authentisch und was literarische Schöpfung ist.

Gegen Ende franst die Erzählung aus: Die Stationen der weiteren Reise durch das Mittel-, das Schwarze und das Rote Meer bleiben unverbunden, als hätte Reuths Protagonist seine Kamera beiseite gelegt. Zum Schluss dämmert ihm, dass er überall von Libyen träumen kann – und er macht sich langsam mit dem Gedanken vertraut, nach Hause zu fahren. Stefan Gerhard

Pola Reuth: „Libysche Träume“, Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 1999, 132 Seiten, 22 Mark


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mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

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