Das allerneueste Gedicht über das Meer
Ein Mausklick genügt, und der Gedichtgenerator „Poetron“ produziert Poesie. Der Helgoländer Dichter Reimer Eilers hat den Automaten mit See-Vokabular gefüttert. Ein Testbericht
Auf meinen Bildschirm hat eine körperlose Erscheinung aus dem Reich der Poesie ihren Auftritt: das Poetron. Der virtuelle Kollege nimmt Auftragsgedichte im Internet an. Sein Schöpfer Günter Gehl nennt ihn auch einen Gedichtgenerator. Da kann man das Poetron wohl als eine Art automatisches Schreibprogramm ansehen. Doch warum so nüchtern, wenn wir schon in poetischen Gefilden surfen?
Für Eilige oder Uninspirierte bietet der Generator an, per Mausklick ein Gedicht zu erstellen. Allerdings: „Du kannst mir auch persönliche Vorgaben liefern. Ich bemühe mich dann wirklich sehr, deinem Geschmack entgegen zu kommen“, heißt es auf dem Monitor. Zwar hat das Poetron noch kein Ohr, dass ich ihm was flüstern kann. Dafür gibt es aber eine Eingabemaske, und ich spiele ihr auf dem Keyboard einige Worte zu: segeln, lächeln, weiß, schön, Hamburg, Emanzipation. Wie wird das Ergebnis ausfallen? Wortsalat, elektronischer Hackepeter? Fraktale oder fatale Lyrik? Plötzlich hat mich das Dichterfieber gepackt. „Alles paletti mit dieser Vorgabe“, kommentiert das Poetron meine Auswahl.
Poetische Auftragsarbeiten sind ein alter Hut. In orientalischen Gesellschaften existiert noch heute der Beruf des Liebesbriefschreibers. Im deutschen Literatur-betrieb wurde Frederike Frei in den Achtzigern mit ihren Auftritten auf der Frankfurter Buchmesse bekannt. Für fünf Mark konnte bei ihr jeder ein Gedicht bestellen. Das Meiste waren ebenfalls Wünsche in Sachen Liebe. Um ihre Idee in den Zeiten vor dem Internet zu propagieren, musste sie noch einen richtigen Verein gründen, den Literaturpost e.V. Aber das war dann schon wieder der Anfang vom Ende. Wer möchte gern Liebesbriefe von einem Verein bekommen?
Mit dem Internet ist das offensichtlich anders. Sonst hätte der E-Mail-Virus „I love you“ in diesem Jahr kein Welterfolg werden können. An mir ist der Kelch vorüber gegangen. Doch nun erhalte ich durch das Poetron das – einen Mausklick lang – allerneueste Gedicht der Welt.
Was der virtuelle Kollege nicht wissen kann: Ich habe ihm die Stichworte eines eigenen Gedichtes vorgelegt. Er wird mir verzeihen. Zum Ausgleich habe ich für seine Präsentation nicht den ersten Versuch genommen, sondern aus etlichen Variationen ausgewählt. Einen Autor, sagt der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, misst man an seinen besten Werken, nicht an den schlechten. Wo er Recht hat, hat er Recht.
Kann man die Resultate vergleichen? Am Ende wohl nur vorläufig und spielerisch, sonst müsste das Poetron eine Seele haben. Trotzdem ist es spannend zu erfahren, ob so etwas wie sprachliche Schönheit oder Innovation auf schnödem elektronischem Wege entsteht.
Das Poetron unterschlägt einen Teil meiner Vorgaben. Hamburg taucht nicht mehr auf, und niemand lächelt. Außerdem verfügt der Gedichtgenerator nur über ein eingeschränktes Repertoire an dichterischen Formen. Es erinnert häufig an Dadaismus und experimentelle Lyrik. Aber gelegentlich finde ich auch Kuttel Daddeldu in seinen Produktionen. Oder Ernst Jandl, man spreche und höre sein „Laut und Luise“. Beispielsweise ist es ein kühnes Bild des Poetrons, die Emanzipation als eine „glitzernde Schlange“ zu sehen.
Der Witz daran ist: Es funktioniert. Ich glaube ja nicht, dass der Gedichtgenerator wirklich etwas von Eva, dem Apfel und dem Paradies weiß. Die Metapher beflügelt dennoch unsere Fantasie, und sei es, dass sie zum Widerspruch reizt. Genau wie das Sprachspiel mit „Weiß“, der Farbe der Unschuld, und dem Wissen, mit dem die Emanzipation dahinsegelt.
Gedichte, sagte der kürzlich verstorbene israelischer Lyriker Yehuda Amichai, sind wie Gebete. Dem einen helfen sie, dem anderen nicht. Falls uns das Poetron nicht zu einem echten Gedicht verhilft, wir lassen das hier offen, erfüllt es trotzdem wichtige Aspekte der Kunst. Es irritiert und regt uns an, indem es gängige Verhaltensweisen kreativ gegen den Strich bürstet. Eine Technik, nämlich die geschäftige Kommunikation über Eingabemasken, die sonst im Internet der Banalität von Gästebüchern, dem Anmelden von E-Mail-Adressen und dem Produkt-Bestellen dienen, wird hier augenzwinkernd und zweckfrei genutzt.
Wenn man dem Zähler unter dem Begrüßungstext glauben darf, hat das Poetron schon über 600000 Gedichte abgeliefert. Traumzahlen für einen Lyriker. Reimer Eilers
Glitzernde Emanzipation
Es glitzert die schöne Emanzipation.
Glitzernde Schlange,
Sie glitzert und segelt, oh Gott,
schön.
Und doch,
Segelt sie weiß und weiß?
Wenn schon ...
Sie glitzert superb.
Poetron
Hamburger Emanzipation
Wellen glitzern
Übern Ponton
In mein weißes Eck
Auf der schönen
Alster segeln
Nur noch Frauen
Männer lächeln
Her vom Heck
Reimer Eilers
www-test.in-chemnitz.de/cgi-bin/poetron
Fisherman’s Blues
Der Brite Sam Larner singt Lieder, die ihn das Leben gelehrt hat: beim Heringsfang auf der Nordsee und am Tresen in der Kneipe
Ein Mann fängt an zu singen. Er hat keine schöne Stimme. Sie reibt sich an den Ecken und Kanten, sie schluckt die Endungen, sie knarrt und knarzt. Kein Instrument begleitet den Sänger; keine Fiedel, keine Akkordeon nicht mal ein Fingerschnippen ist zu hören. Nur die Stimme ist da, rauh und manchmal polternd.
Zwischen den Liedern erzählt der Mann Geschichten, von dem Schimmer im Wasser, wenn die Heringsschwärme dicht unter der Oberfläche vorbeiziehen, oder von guten Seglern, die sich in ihr Segel einfühlen, das Tuch nicht quälen und unnötig an ihm zerren. Und dann lacht er sein kehliges Lachen, das nach 50 Selbstgedrehten am Tag klingt. Er hustet und schluckt und beginnt ein Lied aus Schottland, das davor warnt, einen alten Mann zu heiraten: „Maids, when you’re young, never wed an old man!“
Der Mann, der da singt, zählte zur Zeit der Aufnahmen 82 Jahre und hat ein bewegtes Leben hinter sich. Sam Larner wurde 1878 als eines von neun Kindern in Winterton an der britischen Nordseeküste geboren. Er war noch keine zehn Jahre alt, als er auf einem Kutter anheuerte. Die nächsten Jahrzehnte folgte er vor den Färöern und vor Norwegen den Heringsschwärmen.
Es war ein Leben, das ihn erschöpfte und auslaugte. Und das lag nicht nur an der Arbeit selber, bei der er ständig Wind, Kälte und Salzwasser ausgesetzt war. Es war ein Leben, das sich parallel zum Niedergang der traditionellen Fischerei vollzog, und das musste für ihn, der sein Leben zwischen Netzen und Heringsfässern verbrachte, nicht leicht gewesen sein.
Doch stand am Anfang allen Lobes der guten alten Zeit, die sich in seinen Songs widerspiegelt, eben auch immer wieder die kühle, knappe Schilderung eines Lebens aus Armut und Überarbeitung: „Wir haben oft auch am Sonntag gearbeitet, aber selten am Sonntag ein Mittagessen gehabt.“
Sein ganzes Leben – er starb 1965 – sang Larner die Folk-Songs, die er von seinem Vater und den Fischern seiner Lehrjahre gelernt hatte. Er sang für ein Bier an der Theke oder einfach so. 65 Lieder sind überliefert – traditionelle Balladen, Seemannslieder, Varieté-Stücke.
Die vorliegenden Aufnahmen entstanden um 1960, sowohl in London als auch in Larners Wohnort, wo ihn die BBC-Mitarbeiter Peggy Seeger und Ewan MacColl mehrmals mit ihrem Tonbandgerät besuchten. Die Aufnahmen sind sehr unterschiedlich: Manches klingt, als hätte Larner in eine Konservendose gesungen, anderes so, als säße Larner am Tresen seiner Stammkneipe. Allen gemeinsam ist die intime Atmosphäre, die sich einstellt, wenn Larner zwischen den Songs erzählt, wenn er scheinbar selbstvergessen von Wolken und Wetter singt: „The sun goes down beneath the black, a westerly wind you will ’spect to get.“
Zu welcher Gelegenheit man diese Musik hören sollte? Man sollte das Licht löschen. Draußen sollte der Wind heulen, und im Whisky sollten keine Eiswürfel klimpern. Und man sollte die Augen schließen und es genießen, dass diese Aufnahmen nun wieder zugänglich sind. Frank Keil
Sam Larner: „Now is the Time for Fishing – Songs and Speech by Sam Larner“, Topic records/in-akustik
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