Strapazen im Namen der Menschheit
Der Wettlauf zum Südpol, im Museum nacherzählt
Die Erzählungen von dem, was der Mensch leistet, wenn Ehrgeiz, Mut, Neugier oder patriotische Leidenschaft ihn zu Entdeckertaten antreiben, gehören zum Erbe der Menschheit. Wir lesen das Logbuch eines Kolumbus oder die Berichte Alexander von Humboldts wie Dokumente unserer eigenen Familiengeschichte. Das Herz schlägt höher, als müssten wir die beschriebenen Strapazen selber verkraften.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob wir solchen Spuren hätten folgen können oder wollen. Wir spüren bei der Begegnung einfach so etwas wie ein Gattungserlebnis der Spezies Mensch, denn es waren Abenteuer auch in unserem Namen, insofern hier jedes Mal die Grenzen des buchstäblich Menschenmöglichen neu vermessen wurden.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts machten sich die Entdecker auf, das letzte Neuland zu erforschen – die Antarktis. „South – The Race to the Pole“ heißt die Ausstellung in Greenwich, die mit reichhaltigem Material das Rennen um den Lorbeer am Südpol nachzeichnet. Zur Beruhigung aller, die nicht gleich nach London aufbrechen können: Die einzigartige Schau ist bis zum 30. September geöffnet, und wer sich bis dahin nicht auf den Weg gemacht hat – nun, dem ist wirklich nicht zu helfen. Er hätte eine einmalige Gelegenheit versäumt, fünf aufregende Kapitel moderner Entdeckungsgeschichte nachzuerleben:
1901– 04: Die Fahrt der „Discovery“. Bis auf 410 Meilen kam Robert Falcon Scott an den Pol heran. Scott und seine Leute überlebten nur, weil ein Rettungsteam sie erreichte und den Eisring um die „Discovery“ mit Dynamit frei sprengte.
1907– 09: Die Reise der „Nimrod“. Ernest Shackleton stieß bis auf 97 Meilen Entfernung zum Pol vor. Da die Rationen dezimiert und die Wetteraussichten düster waren, überwand Shackleton seinen Ehrgeiz und kehrte um.
1910 –12: Die Expedition der „Fram“. Roald Amundsen erreicht auf Skiern und von Polarhunden gezogen den Südpol. Auf der Strecke zwischen seinem Basislager und dem Pol, insgesamt 810 Meilen, hatte Amundsen je sechs kleine Vorratsdepots für Brennstoff und Nahrung anlegen lassen, um auf dem Weg zum Ziel mit möglichst wenig Last auszukommen.
1910 –12: Die Fahrt der „Terra Nova“. Mit vier Männern erreichte Scott am 18. Januar 1912 den Pol. Sie fanden die norwegische Flagge vor, und geschlagen mussten sie den Rückweg antreten, auf dem alle den Tod fanden.
1914 – 17: Shackletons zweiter Vorstoß, nun mit der „Endurance“. Diesmal wollte er den Pol vom Weddell-Meer bis zum Ross-Schelf durchqueren. Doch sein Schiff wurde vom Packeis zermalmt; die Crew rettete sich auf Elephant Island, eine der Antarktis vorgelagerte Insel. Von dort gelingt Shackleton das Unmögliche: Er segelt mit einem winzigen Rettungsboot 1400 Meilen zur Inselgruppe Südgeorgien und holt Hilfe.
Diese kurzen Beschreibungen lassen nur ahnen, welche Menge an abenteuerbeladenen Exponaten über dieses „Rennen zum Pol“ vorliegen. Die Ausstellung lässt nichts aus: ein Modell des motorisierten Kettenfahrzeugs, mit dem sich Robert Scott vergeblich durchzuschlagen hoffte, Nahrungsmittelrationen, Kleiderproben, Schiffsausrüstung – und auch das schicksalschwere Telegramm, das Amundsen am 10. Oktober 1910 an Scott in Melbourne schickte: „Erlaube mir, Ihnen mitzuteilen, dass ,Fram‘ zur Antarktis unterwegs ist.“
Noch einmal kann man anhand originaler Seiten aus Scotts Tagebuch nacherleben, wie Haltung und stoische Selbstverleugnung diesen „Helden“ des britischen Empire in seinen letzten Wochen, den Tod vor Augen, zusammenhielten. Die Ausstellung beschönigt nichts, sondern dokumentiert eingehend Scotts katastrophale Irrtümer und Überheblichkeiten, seinen Klassendünkel, seine zeitverhaftete Auffassung von Heldentum.
Aber ebenso aufregend, geradezu schwindelerregend sind viele der übrigen Belege, die das Abenteuer Südpol zeigen. Klar wird vor allem, dass das Terrain nicht nur die Fähigkeit verlangte, alptraumhafte Kältegrade auszuhalten, sondern auch höchste Ansprüche an bergsteigerische Qualitäten stellte. Die zu überwindenden Bergketten und Gletscher liegen zum Teil fast 4000 Meter über dem Meeresspiegel.
Seinen großen Reiz erhält dieses Kapitel der Eroberungen nicht zuletzt aufgrund technischer Entwicklungen: der Fotografie und der filmischen Wiedergabe. Das moderne Medium hatte in dieser Zeit seinen ersten Höhepunkt erreicht. In den Händen von Pionieren wie Frank Hurley und Herbert Ponting kommt ihm eine die Zeiten überdauernde Kraft und Ausstrahlung zu. Wie gerade erst erlebt muten uns die Fotos Hurleys an, die er von der „Endurance“ schoss. 120 Platten rettete der Expeditionsfotograf von der langsam unter dem Eis versinkenden „Endurance“.
Ein eigenartiges Gefühl überirdischer Ruhe spricht aus diesen Bildern, etwa von den bizarren, mächtigen Eisgebilden oder von der „Endurance“, die aus dem Packeis ragt. Dann wieder der Gedanke an das, was einem Shackleton noch bevorstand.
Nirgends ist der Mensch so sehr mit sich und seinesgleichen solidarisch, als wenn er an exemplarischen Einzelnen nachempfinden kann, was es heißt, zu wagen und zu ertragen. Hier, im Maritime Museum von Greenwich, kann man es erleben, mit aller die Sinne und das Nachdenken herausfordernden Wucht. Thomas Kielinger
„South – The Race to the Pole“, Ausstellung im National Maritime Museum, Greenwich, geöffnet bis 30. September täglich von 10 bis 17 Uhr
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