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Dichten? Oder lieber fischen?
Zum 100. Geburtstag des Nobelpreisträgers Halldór Laxness: Sein Biograf spricht über Leben und Schreiben auf Island

Der Mythos von der Isolation Islands wurde 1998 in barer Münze aufgewogen. 360 Millionen Mark zahlte der Pharmakonzern Hoffmann-LaRoche damals für den Zugang zu den Erbgutdaten der isländischen Bevölkerung. Die Forscher waren davon ausgegangen, dass sich die Gene der in Abgeschiedenheit lebenden Isländer über 1000 Jahre hinweg kaum verändert hätten.

Doch mehr als das international umstrittene Gengeschäft symbolisiert Halldór Laxness die Veränderungen seines Landes im 20. Jahrhundert – dem Jahrhundert, in dem Island „die gesellschaftliche und literarische Entwicklung Europas der letzten 300 Jahre durchlebte“, wie es Laxness’ Biograf Halldór Gudmundsson ausgedrückt hat.

mare: Herr Gudmundsson, wie halten’s die Isländer mit der Literatur?

Gudmundsson: Bildende Kunst, Architektur und klassische Musik kamen sehr spät zu uns. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es sieben Klaviere in Reykjavík, und kaum jemand konnte sie spielen. Dafür gab es aber Literatur, vor allem die Sagas. Island wurde erst 1918 unabhängig, und die Literatur, in der sich unsere Identität ausdrückt, war ein Bestandteil des Unabhängigkeitskampfs. Außerdem sind Bücher die billigste kulturelle Alternative. Schließlich waren die Isländer lange Zeit keine reichen Leute – Fischfang oder Fischverarbeitung waren die wichtigsten Erwerbsquellen.

Dann war der Ausspruch des 1932 geborenen Autors Gudbergur Bergsson, er sei Schriftsteller geworden, um nicht Fischer sein zu müssen, ernst gemeint?

Die Generation von Bergsson hatte tatsächlich wenig Wahlmöglichkeiten. Er ist allerdings Lehrer geworden. Schreiben sichert nicht die Existenz. Trotzdem genossen Schriftsteller immer enormes soziales Ansehen auf Island. Deshalb war die Existenz als Dichter eine zumindest denkbare Alternative.

Welche Rolle spielt das Meer bei Laxness?

Bis vor kurzem machten Fischereiprodukte 85 Prozent der isländischen Exporte aus. Man lebte vom Meer, und man starb im Meer. Außerdem konnte man Island lange nur mit dem Schiff erreichen. Von dort wegzukommen war ein großes und teures Unterfangen. Laxness hat für seine Reisen immer nur Passagierschiffe benutzt und liebte es, an Bord zu schreiben. Das Meer ist bei ihm immer präsent, ohne symbolisch überhöht zu werden. Heute hingegen erreicht man Island auf dem Wasserweg fast nur noch mit Trawlern oder Frachtern. Wer verreisen will, besteigt einfach ein Flugzeug.

Bedeutet Laxness jungen isländischen Schriftstellern noch etwas?

In seiner eigenen Jugend lehnte Laxness die Sagas ab, schrieb sozialkritische Bücher und engagierte sich bei den Kommunisten. Später hat er sich mit den Sagas auseinander gesetzt und selbst historische Romane geschrieben. Ich denke, viele Autoren müssen den gleichen Kampf jetzt mit Laxness führen. Zuerst mag man ihn für veraltet halten, dann findet man einen Zugang zu ihm. Er hat gezeigt, dass man in einer Sprache, die nur rund 270000 Menschen sprechen, Weltliteratur schreiben kann. Laxness hat den modernen Roman zu uns gebracht, und er wollte die Isländer erziehen. In einem Zeitungsartikel schrieb er einmal: „Was wir hier brauchen, sind Kinos, eine Universität, Tageszeitungen und Homosexuelle.“

Das Gespräch führte Jörg Zimmermann.

Halldór Gudmundsson: „Halldór Laxness – Leben und Werk“, 224 Seiten, 19 Euro

Halldór Laxness: Werkausgabe in elf Bänden, 250 Euro; beide Steidl, Göttingen, 2002


Venedig ohne Tod
Ein Stadtführer, der in die Irre führt, aber sein Ziel erreicht

Die Aqua Alta ist eine Plage, mit der jederzeit zu rechnen ist. Einen Teil der Lagune hat man zwar zugeschüttet, aber für die Öltanker wurden tiefe Kanäle ausgehoben, und das Meer kann jetzt in nur wenigen Minuten die ganze Stadt überfluten.

Der gebürtige Venezianer Tiziano Scarpa begegnet dem Hochwasserübel mit der nötigen Portion Humor. Falls er das Haus mit dem falschen Schuhwerk verlässt, steuert er sogleich die nächstbeste Drogerie an und deckt sich mit Einkaufsbeuteln ein, die er dann unterwegs über seine Füße stülpt – in dieser Aufmachung ließ sich bisher jeder Wasserfalle trotzen.

Was Sie schon immer über Venedig wissen wollten, aber nie zu fragen wagten: Der 1963 geborene Scarpa, das neue Enfant terrible der italienischen Literatur, lässt in seinem Stadtführer kein noch so profanes Rätsel über die Stadt ungelöst. Schließlich gehört er einer literarischen Gruppe namens „gioventù cannibale“ an, da darf man auch einigen jugendlichen Übermut erwarten.

Historische Exkurse kommen in „Venedig ist ein Fisch“ nur am Rande vor. Dafür kommentiert Scarpa mit ironischem Augenzwinkern die unzähligen Klischees über seine Heimatstadt, beispielsweise das der Todessehnsucht, die über ihre Besucher fällt.

Im Grunde ist das schmale Buch eine kurzweilige Sammlung von Anekdoten aus dem Straßenleben Venedigs. Seinem Objekt nähert sich der belesene Provokateur wohltuend respektlos. Er erklärt die Stadt schlicht zum Fisch. Das hat eine gewisse Tradition. So hat der Dichter Joseph Brodsky in seinem berühmten Venedig-Essay „Ufer der Verlorenen“ die Landkarte Venedigs als zwei gegrillte Fische erkannt, die sich einen Teller teilen.

In Scarpas Augen ähnelt die Stadt einer „riesigen Seezunge, die platt auf dem Grund liegt“. Die Brücke, die sie mit dem Festland verbindet, sei in Wahrheit eine Angelschnur. Die Venezianer hätten irgendwann Angst bekommen, der Fisch könnte den Anker lichten, und so hätten sie ihn in der Lagune angebunden. Zu seinem eigenen Schutz natürlich, denn nach all den Jahren vor Anker hätte das verwöhnte Flossentier das Schwimmen verlernt.

Mit solchen Geschichten treibt Scarpa seine Fabulierlust auf die Spitze, und das, obwohl er gerade diese Art der Mythenbildung für den baldigen Untergang der Stadt verantwortlich macht: „Venedig wird im Meer versinken, weil die Visionen, die Fantasien, Geschichten und Personen es erdrücken.“

Vorher bleibt aber noch genug Zeit, um mit dem Autor in ein Venedig einzutauchen, das bisweilen surreal anmutet. Warum gibt es in der Stadt nur wenige Herzkranke? Weil man alle 50 Meter auf eine Brücke stößt, und die muss erst mühsam erklommen werden. Inmitten der verwirrenden Vielfalt von Gerüchen und Geräuschen sucht Scarpa stets nach einer unerhörten Begebenheit, nach einem amüsanten Zitat.

Wenn man erst einmal seinen Rat beherzigt, den Stadtplan wegzuwerfen, steht der Erkundung des Fischkörpers nichts mehr im Weg, denn der Text geht systematisch vor: Zeile um Zeile durchstreift er das Labyrinth aus Gassen und Kanälen, von den Füßen über das Herz bis zum Kopf. Ein Venedig-Führer für alle Sinne, wie man ihn sich schon immer gewünscht hat. Alexandra Wach

Tiziano Scarpa: „Venedig ist ein Fisch“, Wagenbach, Berlin, 2002, 112 Seiten, 9,90 Euro


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 33. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 33

No. 33August / September 2002

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