„Theater ist keine Ideologiemaschine“
Ein Gespräch mit Thalia-Theater-Intendant Joachim Lux über die Bühnentauglichkeit der Klimakrise anlässlich der Lessingtage 2020
mare: Die Lessingtage widmen sich dieses Jahr dem Thema „Klimawandel und Migration“. Theater und Klimakrise, wie passt das zusammen?
Joachim Lux: Grundsätzlich bewegt alles, was Welt und Gesellschaft bewegt, auch das Theater, und es versucht, künstlerische Ausdrucksformen dafür zu finden. Aber wir sind keine Journalisten, Tagesaktualität wollen und können wir nicht. Die Lessingtage haben den Nebentitel „Um alles in der Welt“, das ist eine Floskel. Aber sie ist in dem Sinn ernst gemeint, dass sich die Lessingtage nicht um den eigenen Bauchnabel, sondern um das Globale kümmern wollen.
Was erhoffen Sie sich davon?
Es gibt natürlich die Hoffnung, dass die inhaltliche Setzung die Zuschauer mitnimmt. Das Thema Klimawandel beschäftigt ja ohnehin schon alle. Was ich, bei aller Problematik, besonders eindrucksvoll finde, ist, dass es ein positives Thema ist. Also wir sind nicht hauptsächlich gegen Umweltverschmutzung, das sind wir natürlich. Aber wir sind vor allem für den Schutz dessen, wovon und womit wir leben. Deswegen hat diese Bewegung eine grundsympathische und mitnehmende Energie. Wenn so ein Theaterfestival nicht in Moralismus ertrinkt, sondern das Positive weitertransportiert, dann wäre das mein größter Wunsch.
Auf dem Programm steht unter anderem die Inszenierung „Arctic“ der belgischen Regisseurin Anne-Cécile Vandalem.
Anne-Cécile Vandalem ist eine sehr interessante Künstlerin, und ihre Arbeit hat unmittelbar mit unserem thematischen Schwerpunkt zu tun. Ich habe sehr gelacht, als Donald Trump Grönland kaufen wollte und beleidigt war, dass es nicht zum Verkauf stand. Daran kann man sehen, wie Dystopien wie „Arctic“ plötzlich von der Wirklichkeit eingeholt werden. In der Aufführung geht es darum, dass die Nordwestpassage aufgrund der Gletscherschmelze frei befahrbar und Grönland unter globalen Ölkonzernen aufgeteilt worden ist. Das Stück bewegt sich ganz nah an den Trump’schen Wunschvorstellungen.
Dennoch bleibt Theater, sofern es nicht explizites Dokumentartheater ist, immer Fiktion. Für wie wirksam halten Sie eine Aufführung wie „Arctic“?
Dieses Stück kann nicht in einem unmittelbar politisierenden Sinn aufrütteln. Dazu ist die in der Inszenierung erzählte Welt viel zu feinnervig, zu surreal, zu poetisch. „Arctic“ kann einen lediglich assoziativ aufrütteln. Mit Trump im Rücken kann man diese Inszenierung noch einmal anders übersetzen. Die Wege im Theater sind immer ein bisschen komplizierter. „Arctic“ ist kein Manifest gegen die Schneeschmelze oder für die Rettung Grönlands. Da würde man das Theater in seinen Möglichkeiten falsch einschätzen und zu sehr auf die Tagespolitik begrenzen.
Das Rahmenprogramm der Lessingtage verspricht dagegen sehr konkrete Denkanstöße.
Die Eröffnungsrede hält Vandana Shiva, sie ist Physikerin, alternative Nobelpreisträgerin, Globalisierungskritikerin und Aktivistin. Außerdem habe ich Johannes Krause, den Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena, eingeladen. Als Archäogenetiker erforscht er, wie sich die europäische Bevölkerung im Kontext der Migration genetisch verändert hat. Das ist total spannend und im Grunde die Antwort der Naturwissenschaft auf Thilo Sarrazin – und zwar mit den knochentrockenen Fakten. Mir kommt es so vor, dass im Kontext der Klimadiskussion ein Paradigmenwechsel stattfindet. Dass nicht mehr die Sozial- und Gesellschaftswissenschaften Antworten geben, sondern mehr und mehr die Naturwissenschaften gefragt sind.
Ein Theaterfestival steht und fällt mit seinen Produktionen, internationalen Gastspielen und Rednern, die europa- und weltweit eingeflogen werden: Was würden Sie Kritikern antworten, die Sie wegen des ökologischen Fußabdrucks der Lessingtage angreifen?
Theater an sich ist Umweltverschmutzung. Menschsein übrigens auch. Wir haben einen hohen Energieverbrauch und wenig Nachhaltigkeit. Wir überlegen aber stets, wie wir Klimaschutz im Arbeitsalltag besser umsetzen können. Gibt es eine Möglichkeit, mit weniger Containern zu fahren oder zumindest innerhalb von Europa mit dem Zug zu fahren, statt zu fliegen? Es ist wirklich schwierig, denn Kultur und Kunst will und muss, finde ich, international sein. Wenn wir nur noch lokal denken und uns ausschließlich in unserer eigenen Provinz formulieren, dann ist das desaströs.
Theater ist für Sie also auch ein Statement für Vielfalt?
Die Welt der Nationalstaaten hat große Verdienste geleistet. Das war eine große emanzipatorische Bewegung, und ich finde es auch völlig falsch, nicht von Nationaltheatern zu sprechen. Aber wir sind über das Nationale hinaus, wir sind global, wir sind international. Wir wollen tolerant sein gegenüber den vielen verschiedenen. Das ist keine großzügige Geste, im Gegenteil, jede Begegnung ist eine Bereicherung für uns, ein großes Geschenk. Das ist natürlich ein Ideal, aber aus diesem Impuls kommen ja die Lessingtage, die ich 2007 ins Leben gerufen habe.
Wie reagiert Ihr Publikum auf diese Setzungen?
Mein Gefühl ist, dass wir in einer Zeit leben, in der vom Staatstheater mehr als reine Unterhaltung erwartet wird. Ich erlebe, dass es bei den Menschen einen relativ starken Hunger gibt, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, sie zu verhandeln und sich auch von einem Theaterbesuch anregen zu lassen. Die Klimakrise ist eine Variante der Migrations- und Flüchtlingsfrage, bei der globale Themen, vor denen wir uns nicht drücken können, auf uns zukommen, Themen, die oft als Bedrohung erlebt werden, die aber eigentlich eine Einladung sind, die Welt zu gestalten.
Aber Sie müssen natürlich auch versuchen, Ihr eher bildungsbürgerliches Publikum zu pflegen. Wie schaffen Sie es, die Waage zu halten?
Theater ist keine Ideologiemaschine, sondern ein Ort, an dem man sich auseinandersetzen kann. Man darf auch die komplett gegenteilige Meinung haben, und wir sind deswegen nicht böse. Das ist unsere Chance. Sobald wir ein Ideologieinstitut wären, hätten wir auch beim Bildungsbürgertum keine Chance.
Das Gespräch führte Katrin Ullmann.
Thalia-Theater Hamburg:„Um alles in der Welt – Lessingtage 2020“, 18. Januar bis 9. Februar 2020, www.thalia-theater.de
Geschenkempfehlungen von mare
... für Kinder
Annet Schaap: „Emilia und der Junge aus dem Meer“, aus dem Niederländischen von Eva Schweikart, ab zehn Jahren, Thienemann, Stuttgart, 2019, 400 Seiten, 15 Euro
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Britta Teckentrup: „Fische, Fische überall“, aus dem Englischen von Angelika Leik, ab sechs Jahren, Prestel, München, 2019, 32 Seiten, 20 Euro
Glänzende Fischkunde
Schon das Cover macht Lust auf Meer. Die Fische darauf kann man ertasten, und glitzerndes Silber lässt den Schwarm leuchten, als scheine die Sonne auf das Meer. Im Inneren geht es sachlicher zu: Fundierte Informationen zu Knochen- und Knorpelfischen finden sich ebenso wie detaillierte Darstellungen von bekannten und unbekannteren Fischarten. Wie gehen Fische auf Nahrungssuche, welche Überlebenstricks haben kleinere Fische? Erklärter Favorit der Künstlerin Britta Teckentrup ist nach eigener Aussage der Mondfisch. Er kann bis zu drei Meter lang und um die 100 Jahre alt werden. ae
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Meereskunde für Kreative
Ein geniales Mitmachbuch, perfekt, um Kinder und Eltern (hoffentlich) einen ganzen Urlaub zu beschäftigen. Es lässt viel Platz zum Selbstmalen von Schiffen, Wellen, Meerestieren, man lernt Seemannsknoten und die Namen von Wolkenformationen, spürt den Farben des Meeres nach und der Weltumsegelung von Magellan. Jede der 224 Seiten hält eine neue kreative Überraschung parat – fast wie ein Adventskalender für die nächsten Sommerferien. ae
Kathrin Wiehle: „Mein großer Ozean“, ab drei Jahren, Beltz & Gelberg, Weinheim, 2019, 16 Seiten, 13,95 Euro
Extragroße Bilder
Ein Sachpappbilderbuch für ganz junge Meeresfans und umweltbewusste Eltern: Das großformatige und großartige Werk ist zu 100 Prozent aus Recyclingpapier und mit Ökofarben gedruckt. Auf sieben Doppelseiten widmet sich Illustratorin Kathrin Wiehle der Vielfalt des Meeres mit stilsicherem Strich: verschiedene Fischarten, die Lebensräume Küste, Algenwald und Tiefsee als liebenswerte, riesige Schaubilder, an denen man sich nicht sattsehen kann. ae
Leo Timmers: „Tiefseedoktor Theodor“, aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, ab vier Jahren, Schaltzeit, Berlin, 2019, 40 Seiten, 15 Euro
Humor zur Genesung
Eine Unterwassergeschichte mit einer überaus sympathischen Hauptfigur: Tiefseedoktor Theodor hat nicht nur, wie das Cover zeigt, einen Verband für jeden Tintenfischarm parat, er kuriert auch die Sehschwächen von Seepferdchen, befreit den Hai von höllischen Zahnschmerzen und hat zudem für alle seelischen Wehwehchen unter Wasser ein offenes Ohr. Da versteht es sich natürlich von selbst, dass alle Meeresbewohner zu Hilfe kommen, als er mit seinem medizinisch fantastisch ausgerüsteten Unterseeboot in Gefahr gerät. Und so lernen kleine Leser auf äußerst heitere und humorvolle Weise, wie wichtig Freunde auch oberhalb des Meeresspiegels sind. ae
... und für Erwachsene
Jochen Raiß: „Eisbären“, Hatje Cantz, Berlin, 2019, 112 Seiten, 16 Euro
Bitte lächeln!
Die Sammelleidenschaft des Hamburgers Jochen Raiß hat eine seltsame Anwandlung der Deutschen offenbart. Zwischen 1920 und 1960 ließ man sich offenbar gern mit Artgenossen im Eisbärenkostüm fotografieren. Warum, wird nicht geklärt in diesem kleinen Buch der Amateurfotografie. Aber vielleicht macht es gerade deswegen Spaß, ganz zweckfrei darin zu blättern. Auch wenn die lustig-naiven Bilder unserer ökopolitisch unbelasteten Vorfahren einen angesichts des Schicksals der echten Bären fast ein wenig melancholisch stimmen. mw
Andreas Tjernshaugen: „Von Walen und Menschen“, aus dem Norwegischen von Martin Bayer, Residenz, Salzburg, 2019, 256 Seiten, 22 Euro
Unser Ein und Alles
Der norwegische Autor, der seinen ersten Bestseller dem „Verborgenen Leben der Meisen“ widmete, hat sich nun den Riesen der Ozeane zugewandt und ihren Weg durch Weltmeere und Weltgeschichte akribisch verfolgt. Was sein Buch von anderen Walwälzern unterscheidet, ist die gelungene Verbindung von historischen und naturwissenschaftlichen Erzählungen und sein kühles Plädoyer, warum wir etwas für den Fortbestand der Wale tun müssen, falls uns an unserem eigenen Fortbestand gelegen sein sollte. ht
Thomas David: „Herman Melville“, Deutscher Kunstverlag, Berlin, 2019, 96 Seiten, 22 Euro
Melville in Nahaufnahme
„Das Leben ist eine Reise, die heimwärts führt“, resümierte Herman Melville gegen Ende seines Lebens. Der Kulturjournalist Thomas David ist ihm auf dieser Reise vom Manhattan seiner Kindheit über die Seemannsjahre auf Walfängern und Kriegsschiffen bis zur Rückkehr aus der Südsee in die Einsamkeit seiner Schreibkajüte aufmerksam gefolgt und hat in diesem vorzüglich gestalteten Band eine Fülle von historischen Dokumenten, Drucken und Fotografien versammelt. Ein Lesefest zum 200. Geburtstag des „größten amerikanischen Romanciers“, als den ihn kein geringerer als William Faulkner feierte. mw
Manfred Hammes: „Durch den Süden Frankreichs“, Nimbus, Wädenswil, 2019, 704 Seiten, 32 Euro
Kleine Genussgeschichten
Klassische Reiseführer haben es schwer im Zeitalter des Internets, wo man sich die besten Empfehlungen zu den entlegensten Orten aus allerlei Blogs und Portalen pflücken kann. Gäbe es allerdings für die ganze Welt so charmant untertitelte „Reiseverführer“, das Genre müsste sich keine Sorgen machen. In gewaltiger Fülle versammelt Frankreichkenner Hammes Wissenswertes und Abseitiges aus Kunst, Literatur und Kulinarik. Launig geschrieben und jede einzelne Episode in ihrer Kürze so wohldosiert, dass man sie selbst unter südlicher Sonneneinstrahlung leicht verarbeiten kann. mw
Alfred Ehrhardt: „Fotografien“, Alfred-Ehrhardt-Stiftung, Berlin, 2019, 232 Seiten, 39,80 Euro
Korallen und Kontraste
Im Jahr 1928 wird Alfred Ehrhardt (1901–1984) Hilfslehrer für Materialstudien am Dessauer Bauhaus – ein Aufenthalt, der den damaligen Kunsterzieher nachhaltig prägen wird. Zur Essenz, gleichsam zum Material der Natur vorzudringen wird auch der Antrieb seiner Fotografie. Er durchstreift das Watt, nimmt die Dünen der Kurischen Nehrung ins Visier, betrachtet mit der Kamera Muscheln und Korallen und lässt dabei eine Abstraktion der Objekte entstehen, die selten so schön in Buchform gebracht wurde wie in diesem von der Alfred-Ehrhardt-Stiftung neu herausgegebenen Band. mw
Caroline Eden: „Schwarzes Meer. Ein Reise- und Kochbuch“, Prestel, München, 2019, 280 Seiten, 30 Euro
Darauf einen Doppelten
Allein das Ansinnen muss gewürdigt werden: dem Schwarzen Meer und seinen Anrainerländern ein Kochbuch zu widmen und Hobbykochkünstlern zu vermitteln, dass es östlich von Paella und Pasta kulinarisch viel zu entdecken gibt. Fischsuppe, wie man sie in Istanbul kocht etwa, von Nikolai Gogol inspirierte Pilzmarinade oder den Potemkin-Cocktail, der selbstredend mit einer ordentlichen Menge Wodka angerührt wird. mw
Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 137. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.
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