Seltsamer weißer Vogel
Die Literatur der Maori in Neuseeland changiert zwischen harten Zustandsbeschreibungen und sehnsüchtigen Gesellschaftsutopien
Wie König und Königin sitzen Jake und Beth Heke da, vor ihrem schäbigen Mietshaus im Maorighetto „Pine Block“. Sie essen genüsslich: Austern, Brassen und Langusten. Beth versteht kaum, woher ihr Mann das Geld für dieses Festmahl hat. Längst ist ihr Traum vom Haus auf eigenem Land ausgeträumt, zerronnen zwischen Alkoholexzessen und dem Anblick der Kinder, die in Autowracks spielen. In diesem Moment aber bekommt sie wieder Lust auf Jake, zum ersten Mal seit langem. Bis er ihr erklärt, wie sie zu den teuren Meeresfrüchten kommen: Es war die erste Rate seiner Arbeitslosenhilfe. Eine Woche zuvor hat er seinen Job verloren.
Diese Szene aus Alan Duffs berühmtem Roman „Warriors“ umreißt das Schicksal einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Ebenso brutal wie realistisch schildert Duff die Lebensbedingungen einer Vielzahl der Maori, jenes Volkes, das bis zur Ankunft der Weißen im Jahr 1769 allein über Neuseeland herrschte.
Oft ohne Bildung, diskriminiert und in Ghettos gepfercht, sind die früheren Herren der Inseln heute eine machtlose Minderheit, ihrer traditionellen Existenzgrundlage beraubt. Der Landbesitz, der für die Maori immer zugleich Zugang zum Nahrung und Leben spendenden Meer bedeutete, ist für wertlose Geschenke, wenig Geld oder in blutigen Kriegen mit den englischen Einwanderern verloren gegangen.
Vor diesem Hintergrund wird die Tragik des festlichen Fischmahls der Hekes erkennbar. Fisch, die alltägliche Nahrung der Vorfahren, wird bei Duff zum beinahe unerschwinglichen Luxus und damit zum Sinnbild vollständiger Entwurzelung.
Der Verlust der Lebensgrundlagen ist auf unterschiedlichste Weise Thema der renommierten, hier zu Lande noch kaum bekannten Maoriautoren. So porträtiert etwa Patricia Grace in ihrem Roman „Potiki“ idealisierend eine Maorifamilie, die zum am Meer gelegenen ländlichen Familienbesitz und damit zu Ackerbau und Fischerei zurückkehrt. Als weiße Neuseeländer dort einen Freizeitpark mit Meereszoo errichten wollen, entbrennt um den ausgedehnten Küstenstreifen eine erbitterte Auseinandersetzung.
Wieder ist Arbeitslosigkeit der Motor des Geschehens. Der Romanheld Hemi Tamihana begreift die individuelle Notlage jedoch als Chance, um „seine eigentliche Arbeit fortzusetzen“: die Weitergabe des kulturellen Erbes. Deshalb zieht er mit seiner Familie an die Küste, fest davon überzeugt, dass dort alles zu finden sei, „was zum Leben wirklich nötig ist“ – materiell und ideell.
Die Maorikultur besitzt ihre eigenen Wissensspeicher. Neben bildlichen Darstellungen zählt hierzu auch die mündliche Überlieferung von Legenden und Ursprungsmythen, in denen die eigentliche Heimat der Maori unvergessen bleibt. Von Ostpolynesien aus hatten sie, nach Sternen navigierend, irgendwann zwischen dem zehnten und 14. Jahrhundert Neuseeland bevölkert. Damit ist ihnen das Meer, von dessen Grund der Urahn Maui in einer Sage die neuseeländische Inselgruppe emporgeholt hatte, auch die Brücke zur eigenen Geschichte.
Für den ersten historischen Maoriroman „Die Prophezeiung“ hat Autor Heretaunga Pat Baker Erzählungen von Stammesältesten verarbeitet. Die opulente Handlung rankt sich, vor der Kulisse eines überwältigenden Küstenpanoramas, um die Prinzessin Rangipai, der es nach Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen gelingt, durch Heirat des Häuptlings Raumoko die verfeindeten Stämme zu befrieden. Das Schicksal des Herrscherpaares ist es jedoch, die Ankunft eines „seltsamen weißen Vogels mit gewaltigen Schwingen“ übers Meer zu erleben: James Cooks Schiff „Endeavour“.
„Das ist nicht weit vom Felsen entfernt, wo ich heute bei Ebbe Hummer fangen will“, sagt Raumoko zu Rangipai und deutet auf die Stelle, wo die Engländer gerade an Land gehen. Im nächsten Augenblick wird dort ein Maorikrieger durch einen Schuss getötet – Auftakt der zweiten Inbesitznahme Neuseelands. Jörg Zimmermann
Alan Duff: „Warriors“, Unionsverlag, Zürich, 1995, 336 Seiten, 9,90 Euro
Patricia Grace: „Potiki“, Unionsverlag, Zürich, 1994, 264 Seiten, 9,90 Euro
Heretaunga Pat Baker: „Die Prophezeiung“, Mana-Verlag, Berlin, 2000, 368 Seiten, 22,80 Euro
Streit mit Folgen
Das Vorbild für Robinson Crusoe war ein schottischer Freibeuter
Wenn es denn wirklich stimmt, dann hat Daniel Defoe seinen Erfolgsroman „Robinson Crusoe“ nur deshalb geschrieben, weil er die Hochzeit seiner Tochter Maria ausrichten musste. Wäre Defoe also nicht verschuldet gewesen, hätte er die Geschichte eines Mannes, der beinahe 28 Jahre auf einer unbewohnten Insel lebte, vielleicht nie erzählt. Und höchstwahrscheinlich wäre dann auch nie ein Buch über einen Mann namens Alexander Selkirk erschienen. Denn Selkirk war es, der Defoe als Vorbild für seine Romanfigur diente: Der Schotte lebte vier Jahre lang allein auf einer Insel im Pazifik, nachdem ihn seine Crew, englische Freibeuter, dort zurückgelassen hatte. 1709 wurde er von englischen Seefahrern gerettet. Das Einzige, was der inzwischen völlig verwilderte Mann gestammelt haben soll, war: „Ausgesetzt.“ Denn anders als Crusoe war Selkirk die ganze Zeit allein.
Die wahre Geschichte verlief also anders. Befreit von jeder Romantik, hat sie nun die amerikanische Sachbuchautorin Diana Souhami erzählt. Für „Selkirks Insel“ bekam sie 2001 den britischen Whitbread-Preis als beste Biografie. Gut recherchiert, erzählt das Sachbuch, das strecken- weise aber auch ein Abenteuerroman ist, die Geschichte eines Mannes, der weder besonders liebenswürdig war noch heldenhaft über eine einsame Insel herrschte. In der Realität beherrschte die Insel ihn.
1704, als der 24-jährige Steuermann Selkirk nach einem Streit mit dem Kapitän ausgesetzt wird und das Schiff am Horizont verschwinden sieht, hat er nur einige Habseligkeiten bei sich, darunter sein Bettzeug, eine Pistole, Rum und die Bibel. Selkirk beginnt, sich ein eigenes bewohnbares Territorium zu schaffen, legt ein Gehege für Ziegen an, die ihm Fleisch und Milch geben, und zähmt wilde Katzen, die irgendwann einmal mit spanischen, französischen oder englischen Schiffen auf die Insel kamen. Seinen wichtigsten Besitz, das Feuer, hütet er Tag und Nacht.
Viel ausführlicher als Selkirks Erfahrungen auf der Insel, und darin liegt tatsächlich die Stärke des Buches, beschreibt Souhami das Leben der englischen Freibeuter im 18. Jahrhundert: unsympathische, streitsüchtige Männer, die für die Aussicht auf jede Menge Branntwein, Frauen und Geld im Dienst der englischen Monarchie deren Dominanzansprüche im Pazifik geltend machen. Immer wieder vertieft sich die Autorin in penible Aufzählungen der Frachtinhalte und gewaltsam erbeuteten „Schätze“: Seide, Gold, Ziegenfelle, Zucker, Hühner, Sklaven. Dann wiederum gibt es Stellen, an denen man gern mehr erfahren hätte, beispielsweise, wie es den Männern gelang, ihnen klar überlegene Schiffe in Gefechten auf dem Meer dennoch zu besiegen und einzunehmen.
Wieder in England und nach vier Jahren absoluter Isolation, fällt es Alexander Selkirk schwer, ein normales, angepasstes Leben zu führen. Er zettelt Prügeleien an und bleibt den Verhandlungen fern. Er geht spontan die Ehe mit einer Bardame ein, obwohl er bereits verheiratet ist. Und schließlich zieht es ihn, nur wenige Jahre nach seiner Rettung, wieder auf See, wo er 1721 an einem Virus stirbt.
Die Biografie endet mit einem durchaus kritischen Ausblick auf die Nutzung der Insel heute. Teilweise unter Naturschutz, ist die Isla Róbinson Crusoe vor der Küste Chiles eine Art wahr gewordener Abenteuerpark für Touristen, die sich bei klarem Wetter von einem Flugzeug der Robinson Crusoe Airlines dort hinbringen lassen. Julia Große
Diana Souhami: „Selkirks Insel. Die wahre Geschichte von Robinson Crusoe“, Goldmann Verlag, München, 2002, 256 Seiten, mit Abbildungen, 21,90 Euro
Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 36. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.
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