„Ich brauche eine Steilküste“
Eine fotografische Wanderung von Elger Esser durch die Normandie auf den Spuren von Malern und Literaten des 19. Jahrhunderts
Schon auf den ersten Blick künden die großformatigen Landschaften Elger Essers vom Bruch mit der Düsseldorfer Tradition des fotografischen Dokumentarismus: Nicht tristgrau sind die Himmel, sondern monochrom blassgelb eingefärbt, beinahe so, als habe man es mit alter Fotografie zu tun. Doch sind Essers elegante Fotografien nicht altersgilb, vielmehr benennen sie eine moderne Sehnsucht. Es ist die romantische Landschaftssehnsucht eines Reisenden, der vor der Schönheit des Gesehenen erstarrt.
Elger Esser war der jüngste Schüler Bernd Bechers an der Düsseldorfer Kunstakademie. Stärker als andere arbeitet er „gegen“ die Bildtraditionen seines Lehrers. Mit seinem fotografischen Blick steht Esser heute fast alleine da, Bezüge zur Vedutenmalerei eines Canaletto und zu Reisefotografien des späten 19. Jahrhunderts dominieren das Werk und irritieren den zeitgenössischen Betrachter, der so viel Romantik kaum mehr gewöhnt ist.
„Cap d’Antifer – Étretat“, Essers neues Fotobuch, ist eine poetische Huldigung an die französische Literatur und Kunst: Gezeigt wird ein Stück Land, das im 19. Jahrhundert zur Pilgerstätte der Impressionisten geworden war – der magische, karge Küstenstreifen in der Normandie zwischen Cap d’Antifer und Étretat.
Doch nicht nur Courbet, Monet und den jungen Duchamp zog dieser Ort immer wieder an. Die spektakulären Felsformationen, die hohen Klippen und das tosende Meer hatten auch die Dichter Flaubert und Maupassant im Jahr 1877 zu einem Briefwechsel angeregt. Maupassant unternahm die Wanderung von Cap d’Antifer nach Étretat im Auftrag Flauberts, der für einen Abschnitt seines Romans „Bouvard und Pécuchet“ gebeten hatte: „Ich brauche eine Steilküste, die meinen beiden Biedermännern Angst macht. Geben Sie mir doch eine Beschreibung der ganzen Küste … bis Étretat.“
Essers Fotografien sind die Illustration des Berichts von Maupassant, der in dem Band in Auszügen abgedruckt ist. Beinahe sehen sie so aus, als werfe sich die Natur in Pose und brüste sich ihrer Monumentalität. Schon bald kommt dem Betrachter der Begriff des Erhabenen in den Sinn.
Doch nicht nur Sehnsucht und Geistigkeit, auch die Präzision der Wissenschaft interessiert den Fotografen. So findet das komplexe Zusammenspiel von Kalkstein, Meer, Algen, Sand, Süßwasserquellen und Gras Eingang in Essers Fotografien, indem er mit bildlicher Akribie die Genauigkeit des Berichts von Maupassant umsetzt.
Von der populären Strategie, Landschaft als Ort des Künstlichen und Entfremdeten zu hinterfragen, hält Esser wenig. Nicht Humor und Ironie sind seine Mittel. Er gehört zu den wenigen Fotokünstlern dieser Tage, die sich dem Landschaftsthema auf emotionale Art nähern: Er hat keine Angst vor dem Pathos, vor den Sentimentalitäten der Landschaft. Seine Bilder oszillieren zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen unverhohlener Subjektivität und vorsichtigem, distanziertem Innehalten.
Marc Peschke
Elger Esser: „Cap d’Antifer – Étretat“, Verlag Schirmer/Mosel, München, 2003, Text von Peter Foos, Auszüge aus dem Briefwechsel von Gustave Flaubert und Guy de Maupassant, 48 Seiten, 39,80 Euro
Aufgeknüpfte Wegelagerer am Ufer
Kunst an Belgiens Küste: Die neue Triennale „Beaufort“ zeigt Skulpturen und Installationen von De Panne bis Knokke-Heist
Künstler, das liegt in der Natur der Sache, sind meist eitle Menschen. Sie feilen und polieren am künstlerischen Ausdruck – und doch immer auch am eigenen Ruhm. Wenn man in diesem Sommer an der belgischen Küste flaniert, wenn man sich am weiten Strand von De Panne den Wind um die Nase wehen lässt, stößt man ständig auf Figuren. Bronze, nackt, männlich, mit kahlem Schädel starr aufs Meer blickend. 100 Skulpturen hat der Engländer Antony Gormley nach seinem Vorbild gegossen, und man fragt sich schon, weshalb ein Künstler ausgerechnet den eigenen Körper, das Ich so emsig reproduziert. Ist’s Größenwahn? Oder die Sorge, sich als einzelner Künstler nicht behaupten zu können? Nun kommt man zumindest nicht mehr an ihm und seiner Arbeit vorbei – und es ist der wohl prägnanteste Beitrag des Kunstprojekts „2003 Beaufort: Kunst am Meer“.
Die Triennale für zeitgenössische Kunst an der belgischen Küste findet in diesem Jahr zum ersten Mal statt. Sie besteht aus der Ausstellung „Marinen in Konfrontation“ im Oostender Museum für Moderne Kunst sowie Projekten unter freiem Himmel. 30 Künstlerinnen und Künstler zeigen am Wasser, in den Dünen oder den Städten Installationen und Skulpturen.
Wenn das Wasser allmählich steigt und die Sonne untergeht, erst dann entfaltet „Another Place“ von Gormley seine Poesie. Am hell ausgeleuchteten Tag stehen die bronzenen Körper wie kalte Säulen im Wind, streng grafisch angeordnet. In der Dämmerung aber, wenn ihnen das Wasser über die Knöchel schwappt, werden diese Abbilder des Künstlers zu traurigen Schatten, die es in die Ferne, in die Endlosigkeit des Meeres hinauszieht.
„Beaufort“ ist für die Region ein mutiges, ungewöhnliches Projekt, auch wenn es seine Schwächen hat. Für „Marinen in Konfrontation“ wurde manch hochkarätiges Seestück ausgeliehen, von William Turner und Gustave Courbet über Claude Monet bis zu Gerhard Richter. Doch die Werke wurden, vermischt mit Bildern unbedeutender Lokalmatadoren, in unsinnige Kategorien eingeteilt – emotional, retinal (das heißt „nur oberflächlich wahrnehmbar“), visionär und erzählend –, in die sich die künstlerischen Positionen partout nicht hineinpressen lassen.
Gewagt ist die Arbeit „Aneinander“ von Berlinde de Bruyckeres. In die Dünen von De Haan hat die belgische Künstlerin zwei ineinander verkeilte Pferdeleiber an einen Galgen gehängt – verschlungen wie Menschen beim Sex, gleichzeitig an der Mähne aufgeknüpft wie Wegelagerer. Eine Arbeit, die verunsichert, erschüttert, die Idylle dieser friedlichen Landschaft in Frage stellt.
Der schottische Künstler David Mach hat für den Strand von De Haan eine riesige Frau im Badeanzug nachgebildet, die – in der Luft hängend – scheinbar ins Wasser eintaucht. Es ist eine gefällige Arbeit, die sich malerisch gegen den Himmel abzeichnet und die Sommergäste verzücken wird.
Radikaler ist das deutsche Duo Winter & Hörbelt, das aus leeren Getränkekisten einen Tunnel gebaut hat, der ins Meer ragt. Aus der Ferne wirkt das Konstrukt wie ein verrotteter Container, von nahem wird es zum Rahmen, der die See fokussiert, im Innern ist es ein Floß, das nur knapp über den peitschenden Wellen treibt – ein Beitrag, der formal entschieden ist, der zunächst schroff wirken mag, aber wegen seiner enormen sinnlichen Wirkung dennoch einnimmt.
Viele Beiträge wurden durch andere Ausstellungen initiiert; all jene, die sich konkret auf den Ort beziehen, sind die gelungensten. Sollte es in drei Jahren wie geplant eine Fortsetzung geben von „Beaufort“, würde ein strengeres Konzept wohl tun. So ist es ein unterhaltsamer, bunt gemixter Parcours geworden, mal banal, mal bewegend.
Adrienne Braun
2003 Beaufort: Kunst am Meer. Triennale für zeitgenössische Kunst am Meer. Bis 28. September. Information, Kartenverkauf: www.2003beaufort.be; Telefon +32 70 22 50 04; Telefax + 32 70 22 50 08
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