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Muss zum Strand. Vermisse dich total
Der Künstler Martin Mlecko hat ein Fotobuch herausgebracht, das sehr viel Spaß macht und nebenbei nach dem Sinn des Reisens fragt

Wenn einer 182 Postkartenmotive aus aller Welt in einer, sagen wir, realsozialistischen Pop-Ästhetik der siebziger Jahre zwischen zwei schrille Buchdeckel presst und „Heimweh“ vorn drauf schreibt, kann man schon stutzen. Obendrein sind oben drauf, also auf die Fotografien, Grußtexte gedruckt, die einst die Rückseiten der Originalpostkarten zierten.

Der in Berlin lebende Künstler Martin Mlecko hat sich für seine jüngste Arbeit „Heimweh“ der Gebrauchsfotografie zugewandt. Mlecko begann in den siebziger Jahren, Postkarten zu sammeln. Anfangs mag er sich nur gewundert haben über die trivialen Texte, er selbst schreibt nämlich „überhaupt keine Postkarten, nie“, wie er versichert. Das Sammeln hat jedoch sein Interesse gehalten, weil allmählich etwas Allgemeingültiges in den Karten aufschien. „Daheim ist bunt, Weh ist grau“ bringt es jemand auf den Punkt. Wenn es Meer und Sonne zu Hause gäbe, wären manche wohl gar nicht erst verreist. Aber auch Freunde des Fremden sind im Moment des Schreibens in Gedanken daheim.

In einer Biografie über Martin Mlecko ist zu lesen, ihm gehe es vor allem um die emotionale und intellektuelle Effizienz seiner Werke. Die Mehrheit der Testpersonen bestätigt „Heimweh“ hohe emotionale Effizienz, die sich in ständigem Vorlesedrang der banalsten Texte bei ans Hysterische grenzendem Lachreiz äußert. Schlimmstenfalls erkennt man sich selbst wieder, fühlt sich ertappt und kann dann wahrscheinlich diesem Kunstbuch überhaupt nichts abgewinnen. Dann bleibt nur noch, es zu zerreißen, denn alle Karten sind perforiert und können wieder in den Kreislauf der Urlaubsgrüßerei eintreten. Judith Reker

Martin Mlecko: „Heimweh“, mit Texten von Corinna Weidner, Nicolai Verlag, Berlin, 2003, 72 Kartonblätter, 216 heraustrennbare Postkarten, 19,90 Euro


Im Exil am Ende
Über ein Schiff im Hafen von Marseille bricht der Tod herein

„Brütende Hitze erstickt jeden Laut, alles keimt, stirbt, modert und fault …“ überschreibt Jean-Claude Izzo ein zentrales Kapitel seines Romans, und in diese fiebrige Atmosphäre, in der alles Leben Selbstbehauptung ist, wirft er von Beginn an seine Figuren. Antihelden sind sie, die Seeleute der „Aldebaran“, die ohne Hoffnung auf ein Auslaufen im Hafen von Marseille verkommt, weil der betrügerische Reeder in Konkurs gegangen ist. Schließlich bleiben von der Mannschaft nur Abdul, der libanesische Kapitän, und sein griechischer Offizier Diamantis; weil die See ihr Leben, das Land unsicherer Boden unter ihren Füßen ist.

Doch mit dem Dümpeln im Hafenbecken beginnt das Grübeln. Die Vergangenheit holt sie ein und mit ihr die Länder, die sie nicht vergessen können, die Frauen, die sie in der Ferne begehren oder die sie verloren haben, und der Schmerz menschlichen Versagens. Und dann kommt Nedim zurück an Bord, ein junger türkischer Matrose, der endgültig nach Anatolien heimkehren wollte. Eine letzte heiße Nacht in Marseille hatte er gesucht, in einer halbseidenen Bar jedoch nicht nur sein bisschen Geld, sondern auch seinen Pass verloren. Mit Nedims Rückkehr auf die „Aldebaran“ beginnt das Unglück.

Izzo ist ein großer Erzähler. Mit Geschick lässt er die Fäden der Schicksale, die die Landgänge der Seeleute nach und nach ans Licht bringen, auf der „Aldebaran“ zusammenlaufen. Wie in den meisten seiner Romane halten fesselnde Krimisequenzen die Spannung. Izzo steht in der Tradition des „Néo-Polar“, einer aus der Zeit der 68er hervorgegangenen literarischen Bewegung, die sich dem Anprangern von Rassismus, sozialer Ungleichheit und dem Filz der Mächtigen verschrieb. Durch Literatur solle Vereinzelung überwunden werden, und der Kriminalroman sei am besten geeignet, dies zu leisten und das Mosaik der Wirklichkeit zu erfassen.

Es sind die Geschichten der „kleinen Leute“, die Izzo interessieren, und Marseille, die Stadt der Exilierten, ist ihre Welt, denn hierher bringt kaum einer mehr mit als seine Vergangenheit und die Hoffnung auf eine Zukunft in Würde. Insofern ist die „Aldebaran“ ein Mikrokosmos der Hafenstadt. Dass Marseille für Izzo seit dem Gründungsmythos, der von der Vermählung des ionisch-griechischen Seefahrers Protis mit Gyptis, der Tochter des Königs des lokalen Keltenvolkes, erzählt, eine einzige Geschichte des Suchens und Ankommens ist, daran lässt der französische Schriftsteller italienisch-spanischer Herkunft in seinem Roman keinen Zweifel. Es ist die historische Ignoranz der großen Wirtschaftsinteressen und der Planer in Paris, die Marseille in einen „klinischen Europort“ verwandeln wollen, die Izzo immer wieder anprangert.

Marseille ist für ihn Symbol europäischer Offenheit nach Süden und für Reichtümer, die jedem greifbar sind: das mediterrane Licht und ein unerschöpflicher Ästhetizismus des Lebens. Darin liegt etwas Pathos, das aber nie zum Sozialkitsch wird. Dagegen versperrt sich die klare, herbe Sprache ebenso wie das Ringen der Figuren um ihre Existenz. Auch das Bild vom harmonischen Kosmopolitismus der Stadt, von Tourismusbroschüren gern beschworen, bleibt im Roman ein Ideal, das sich der Realität entzieht – so wie die eine große Liebe jedem einzelnen Seemann von der „Aldebaran“ entgleitet.

Und doch, die Hoffnung stirbt nicht: „Mittag in Marseille, und das Leben geht weiter …“ Markus Meßling

Jean-Claude Izzo: „Aldebaran“, Kriminalroman, aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Voullié, Unionsverlag, Zürich, 2003, 288 Seiten, 19,80 Euro


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No. 41Dezember 2003 / Januar 2004

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