mare-Salon

Empfehlungen aus Literatur, Musik, Film und Kulturleben

Das ganze Leben ein einziger Nebel
Eroberer, Liebesdramen und unheimliche Überfahrten: Das Meer auf der Berlinale 2006

„The New World“

Wasser kann Freiheit bedeuten und Unheil, kann Lebenselixier sein und Vorbote des Untergangs. In „The New World“ fließt es unaufhörlich, in Bächen und Seen, über Steine und Hölzer, das Meer ist Verkehrsweg, Eroberungsraum und, am Ende, Symbol für kulturelle Unterschiede. Es geht in Terrence Malicks grandiosem Film – der bei der Berlinale außer Konkurrenz im Wettbewerb zu sehen war – um die überlieferte Legende von Pocahontas, der Indianertochter, die Anfang des 17. Jahrhunderts einen Weißen vor dem Tod rettete. Neil Young hat einen 1979 Song über „Pocahontas“ geschrieben, natürlich ein trauriges Lied, der Sänger träumt sich ans friedliche Lagerfeuer der Indianer. Viel besser zu „The New World“ passt ein anderes Neil-Young-Lied, „Cortez the Killer“. Eine langsame Gitarre quält sich minutenlang, und dann singt die dünne Stimme klagend „He came dancing across the water, with his galleons and guns, looking for the new world“.

Und wie sie ankommen: Britische Eroberer landen 1607 in Virginia, sie bauen ein Camp auf, später bringen sie die Kanonen in Stellung. Captain John Smith (Colin Farrell) wird den Fluss hinauf geschickt, um mit den „Wilden“ zu handeln. Als er gefangen wird, bewahrt die Häuptlingstochter (gespielt von der 15-jährigen Q’Orianka Kilcher) Smith vor der Hinrichtung. Später lernt Pocahontas, deren Name im Film nie fällt, die europäischen Sitten und wird in England vom König empfangen. Sie stirbt 1617, kurz vor ihrer Rückfahrt nach Virginia. Die Ankunft der Männer im unzugänglichen Urwald ist unterlegt mit Wagners Vorspiel zu „Rheingold“, eine rauschhafte, alles und jeden in Bann ziehende Musik. Die Engländer dringen ins Paradies vor und zerstören die natürliche Ordnung. Staunend nähern sich Smith und die Indianer einander an, aber schon bald bricht Krieg aus.

Terrence Malick hat in 33 Jahren gerade vier Filme gemacht, lange Jahre galt er als verschollen, bis er 1999 mit dem Kriegsfilm „Der schmale Grat“ wieder auftauchte. Mit seinem jüngsten Werk zeigt er sich als Poet und Naturmystiker. Malick setzt eine ungeheure Flut an Bildern in Gang – Gräser, Bäume, Sümpfe, Insekten und eben Wasser, dazu ein philosophischer Off-Kommentar, der aus dem Mund der Figuren Heidegger ebenso sprechen lässt wie Thoreaus „Walden“.

Die melodramatische Liebesgeschichte zwischen dem Soldaten und der Indianerprinzessin ereignet sich eher nebenbei. Malick interessiert vielmehr der Kulturprozess. Pocahontas’ Identität verfällt, als sie ihre Füße in Schuhe zwängt und auf den Namen Rebecca getauft wird. John Smith zieht irgendwann weiter, er sucht die Nordwestpassage. Einmal noch treffen sie sich. „Hast du dein Indien gefunden?“, fragt Pocahontas. Antwort: „Ich bin vielleicht daran vorbeigesegelt.“

„Esperanza“

Dass man als Passagier dem Kapitän und dem Wasser ausgeliefert ist, zeigt der Film „Esperanza“ (Regie: Zsolt Bács) in der Reihe „Perspektiven deutsches Kino“. Ein Häuflein Reisender will am Silvesterabend von Rostock nach Kopenhagen, der Smutje (Boris Aljinovic) des alten Vergnügungsdampfers „Esperanza“ lädt sie ein. Die Navigationsinstrumente fehlen, der Kapitän verirrt sich prompt im dichten Nebel.

Im Salon des Schiffes, an Deck und im Maschinenraum treffen die seltsamen Charaktere aufeinander, unter anderen ein Hochstapler, eine schnippische Anwältin, verwöhnte Jugendliche, ein spätes Mädchen, ein freigelassener Sträfling, der unbedingt zurück ins Gefängnis will, sowie eine potenzielle Selbstmörderin, die sagt: „Mein ganzes Leben ist ein einziger Nebel.“

Während sie ihre kleinen und großen Lebenslügen ausbreiten, kocht der ungarische Chef in der Kombüse ungeheure Mahlzeiten, in die Creme mischt er zur Abrundung einen Tropfen Maschinenöl oder die salzigen Tränen einer Jungfrau. „Esperanza“ ist ein witziger Ausflug, mit einem Faible für groteske Situationen und einer überkandidelten Bildsprache. Man möchte auf dem Schiff nicht mitfahren. Wer will Silvester auch schon nach Kopenhagen?

„Invisible Wave“

Die moderne Fähre ist sowieso ein Schreckensort. In dem niederländisch-thailändischen Film „Invisible Wave“, ebenfalls im Wettbewerb, fährt der japanische Koch Kyoji von Macao zur Halbinsel Phuket. Er hat im Auftrag seines Chefs dessen Frau vergiftet, Kyojis Geliebte. Ein Urlaub soll ihm gut tun. Das Schiff entpuppt sich als klappriger Seelenverkäufer, die winzige, schmutzige Kabine liegt direkt neben dem Maschinenraum. Der traurige Passagier kämpft mit Koje, Lichtschalter, Dusche und Wasserhahn, er irrt wie Barton Fink als heimatloser Geist durch kahle Gänge. Killer verfolgen ihn auf See und an Land.

Regisseur Penek Ratanaruang inszeniert eine Geschichte um Schuld und Sühne, mit Versatzstücken des westlichen Genrekinos und einem irritierenden Rhythmus. Einmal geht Kyoji an Bord in die Schiffsbar und verlangt nach einem Glas Milch. Der Barkeeper hasst seinen Job, er will sich mit der miesen Arbeit selbst bestrafen. Kyoji sagt: „Ich mag das Gefühl, dass das Meer mich nicht verurteilt. Es schaut mich nur an, und ich schaue zurück.“ Der Barkeeper antwortet: „Mich verurteilt es die ganze Zeit.“ Schon erstaunlich, wie viel Schuldzuweisung von Wasser ausgehen kann. Holger Kreitling

Berlinale 2006:
„The New World“, USA, 2005, Regie: Terrence Malick;
„Esperanza“, Deutschland, 2006, Regie: Zsolt Bács;
„Invisible Wave“, Niederlande/Thailand, 2005, Regie: Penek Ratanaruang


Holland in Not
Margriet de Moor schreibt über die große Sturmflut von 1953

Es sollte nirgends Wasser plätschern. Es sollte kein Regen aufs Dach prasseln, keine Fenster dürfen klappern, keine Zweige gegen Scheiben klopfen oder der Wind im Kamin heulen. Am besten, man liest Margriet de Moors neuen Roman an einem warmen, trockenen Ort, wo es so windstill ist, dass ein Bausch Watte, hoch in die Luft geworfen, präzise senkrecht herniederfällt. Doch wird es etwas nützen? Wird es verhindern können, dass man beim Lesen schon bald ängstlich schaut, ob das Licht flackert? Braut sich da draußen nicht schon etwas zusammen? „Sturmflut“ heißt der Roman. Nur „Sturmflut“. Ein Wort, das reicht.

Erzählt wird die Geschichte zweier Amsterdamer Schwestern, Lidy und Armanda. Lidy hat schon Mann und Kind, Armanda wohnt noch bei den Eltern, aber ganz in der Nähe. Zu einer Party ist Lidy samt Mann an diesem Wochenende eingeladen, während Armanda ihr Patenkind zu dessen Geburtstag besuchen soll, in einem Nest auf der Insel Schowen-Duiveland inmitten der zeeländischen Küstenlandschaft. Sechs wird die Kleine und freut sich auf Ballettschuhe. Doch Armanda wird nicht fahren, so wie Lidy nicht auf der Party erscheinen wird.

Die Schwestern tauschen ihre Aktivität, und so ähnlich, wie sich die beiden sind, wird es gewiss ein kleiner Spaß werden, wenn Lidy als Armanda und Armanda als Lidy angesprochen werden wird. Überhaupt hat Lidy Lust, wieder einmal Auto zu fahren, unterwegs zu sein, es windet ein wenig, es wird schon nicht so schlimm werden, sieh an: Es hört schon auf zu regnen, auch wenn der Wind eher zunimmt. Und Lidy fährt los, fährt die Küste entlang, nimmt die Autofähre, die kaum vorwärts kommen mag, sich gegen die heranrollenden Wellen stemmt, oh, es schaukelt beim Lesen, auch wenn das nicht sein kann, natürlich nicht.

Zugrunde liegt dem Roman die große Sturmflut in der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1953 im Süden der Niederlande. An 100 Stellen werden Deiche brechen, das Wasser wird ganze Dörfer überspülen, bis am Ende gut 200 000 Hektar Land überschwemmt daliegen. Es ist Wochenende, der Katastrophenschutz ruht, das Radio bringt keine Warnung. Sehr spät ist es, genau genommen: sehr früh, da gelingt es Amateurfunkern aus der betroffenen Region, Alarm zu schlagen. Erst im Lauf des Sonntagnachmittags dämmert es den Inlandsniederländern, welches Unheil über ihre südliche Küstenregion hereingebrochen ist. Mehr als 1800 Menschen sind ertrunken.

Auch Lidy, wie man schon nach der ersten Seite weiß. Denn de Moor spielt nicht mit Spannung, sie braucht sie nicht als dramaturgischen Kniff, schon gar nicht als Hilfsmittel. Nicht, wie die Geschichte ausgeht, ist wichtig, sondern wie sie sich ereignet. Und während es bei Lidy bald um Minuten geht und ihr Lebensraum immer kleiner wird, schreitet Armandas Leben voran, wenn auch in ganz anderen Schritten. Ein Dasein, das nach jenem Partyabend ein ganz anderes werden wird und doch das alte Armanda-Leben bleibt, so wie auch Lidy in ihrem Leben anwesend bleibt, bis zum letzten Atemzug.

Sehr geschickt ist das ineinander montiert, so minutiös wie großzügig erzählt. Abwechselnd wird man gerüttelt und durchweicht und beruhigt und getröstet auch. Bis man nicht mehr weiß, wie der Sturmflut entkommen, und eben passiert, was passiert, am Ende dieses ganz und gar großartigen Romans. Frank Keil

Margriet de Moor: „Sturmflut“, aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Carl Hanser Verlag, München, 2005, 352 Seiten, 21,50 Euro


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 55. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 55

No. 55April / Mai 2006

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