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Tschechische Molche, sehr genial
Karel Capeks 1936 erschienenes, von Hans Ticha illustriertes Meisterwerk „Der Krieg mit den Molchen“ ist endlich wieder aufgelegt

Molche sind keine Affen und ihr Terrain weder das Festland noch andere Planeten, sondern flache irdische Küstengewässer. Wo aber stünde geschrieben, dass nicht auch sie universelle Herrschaft übernehmen könnten? Karel Capek (1890–1938) veröffentlichte „Der Krieg mit den Molchen“ zwei Jahre vor seinem Tod – und drei Jahrzehnte vor Pierre Boulles „Planet der Affen“. Das Buch des tschechischen Schriftstellers wurde jedoch durch keine Hollywoodverfilmung populär und blieb eine Art intellektueller Geheimtipp. Was gesellschaftliche Relevanz nicht ausschloss: Im Vorfeld des Prager Frühlings schrieb der Dramatiker Pavel Kohout, ein enger Freund Václav Havels, eine gefeierte Bühnenversion, die damals freilich nur im Westen aufgeführt werden durfte.

Die Molche, von einem skurrilen Kapitän namens van Toch einst vor der Küste Sumatras in die kapitalistische Handelslogik eingeführt – bewaffnete Hilfe bei der Besiedlung von Inseln gegen den Tribut von Perlen –, erweisen sich keineswegs als arglose unterdrückte Wesen, sondern als schleimige Monster, die menschlicher Destruktivität in nichts nachstehen. Bald haben sie nicht nur den Archipel unter ihre Kontrolle gebracht, sondern breiten sich über die Welt aus und bohren sich mithilfe modernster Werkzeuge, die ihnen raffgierige Menschenwesen verkauft hatten, ins Innere der Britischen Insel.
Spätestens an dieser Stelle wird der mit Spannung und Witz quecksilbrig erzählte Roman zur unsterblichen Zeitdiagnose. Wie nämlich lässt der tschechische Autor, dessen Heimat 1938 von Hitler überfallen und 1945 von den Sowjets okkupiert werden wird, die Briten reagieren?

Während dortige Konservative zunehmend rabiater werden („Molche raus! Molche ins Meer!“), gefallen sich die Progressiven in Verständnisrhetorik. Eine paternalistisch argumentierende „Liga zum Schutz der Molche“ wird gegründet, menschliche Pro-Molch-Aktivisten unterzeichnen diverse Petitionen und fordern, „dass an den Meeresküsten abgesonderte Molchspielplätze eingerichtet werden, wo die Molche, ungestört von neugierigen Zuschauern, ihre ,Meetings und Sportfeste‘ abhalten können, […] dass bis zu einem gewissen Maße an den Molchschulen dafür Sorge getragen wird, die Jungmolche nicht mit Lehrstoff zu überlasten“.

Das gut gemeinte und gleichzeitig nicht gänzlich uneigennützige Humanisierungsprogramm, das die molchigen Perlentransporteure domestizieren will, schlägt jedoch fehl. Denn weshalb sollten sich diese, längst auf der ganzen Erde unterwegs und emsig Festland abbauend, um ihre Tümpel zu erweitern, noch in ein System integrieren, das ihnen ohnehin bald in die Hände fallen wird? Und schon haben sie ihre eigenen Führer und Parolen: „Zurück zum Miozän! Fort mit allem, was uns vermenschlichen will! In den Kampf für das unverfälschte Molchtum!“

Während westliche Politiker eine letzte Konferenz abhalten und an Kommuniqués feilen, bricht die von den Molchen angebohrte Erdrinde, es kommt alles ins Rutschen, und das Menschengeschlecht verschwindet. Der Beginn eines nunmehr harmonischen Molchzeitalters? Von wegen! Capek lässt mit „König Salamander“ und „Chief Salamander“ zwei totalitäre Führer auftreten, wobei ironischerweise Letzterer ein ehemaliger Mensch namens Andreas Schultze ist, „der im Ersten Weltkrieg irgendwo Feldwebel war“. Kein Wunder, dass die Nazis nach ihrem Einmarsch das Buch auf den Index setzten, während danach die kommunistischen Regime den komplexen, diktatur- und wirtschaftskritischen Roman „antifaschistisch“ deuten ließen und Veröffentlichungen zustimmten.

Die schönste aus der Endzeit jenes Systems ist nach drei Jahrzehnten nun bei der Edition Büchergilde wieder erhältlich: die 1987 im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienene Fassung mit den legendär gewordenen Zeichnungen und Collagen von Hans Ticha. Zehn Jahre hatte der in Ost und West renommierte Buchkünstler an diesem Projekt gearbeitet, und es strahlt bis auf den heutigen Tag. Was durchaus wörtlich zu nehmen ist, denn mit knalligen Pop-Art-Werbefarben wird hier die frühe

Molcheuphorie der menschlichen Warengesellschaft illustriert, finden sich Anleihen an die Ästhetik maritimer Plakate, bis schließlich das zunehmend vertrackte Handlungsgeschehen eher Kubistisches erfordert, die Bildsprache wissenschaftlicher Aufklärungsbroschüren oder die schwarze Brachialfrakturschrift von Propagandazetteln. Ehe dann zum Schluss der Geschichte von Menschen erzählt wird, die die Katastrophe überlebt haben und sich auf jenen Bergen einfinden, die übrig geblieben sind.

„Die Kontinente wachsen allmählich durch die Anschwemmungen der Flüsse wieder an, das Meer weicht Schritt für Schritt zurück, und alles wird beinahe wie früher.“ Will heißen: Selbstverständlich gibt es kein Happy End, Karel Cˇapeks Erzähler seufzt sein „Weiter weiß ich nicht“, während Hans Ticha ein schwarzes Quadrat zeichnet, darin vier quittengelbe Striche, zwei lang, zwei kurz. Könnten Menschen sein. Oder Molche. Oder eben auch nur Striche. Ergo: Was für ein Buch – zwei Meisterwerke in einem! Marko Martin

Karel Čapek, Hans Ticha: „Der Krieg mit den Molchen“, aus dem Tschechischen von Eliška Glaserová, Edition Büchergilde, Frankfurt am Main, 2016, 336 Seiten, 24,95 Euro


Schweizer Pfarrer, sehr opulent
1176 Seiten dick ist die Robinsonade, die der verwitwete Pfarrer Wyss vor 200 Jahren schrieb, um seine Söhne zu beglücken und zu erziehen

Seemannsgarn ist in der Regel das Handwerk gestandener Seeleute. Dass aber auch ausgemachte Landratten in diesem Metier begabt sein können, bewies vor über 200 Jahren der Schweizer Pfarrer Johann David Wyss aus Bern. Als verwitweter Vater von vier Jungen brachte der Geistliche seit Ende des 18. Jahrhunderts eine ganz besondere Geschichte zu Papier. Unter dem Titel „Charakteristick meiner Kinder. In einer Robinsonade“ versetzte Wyss sich, seine Frau und Kinder à la Robinson Crusoe in ein imaginiertes Abenteuer: Als Schiffbrüchige erleben sie an einer unbenannten Küste, möglicherweise dem südwestlichen Neuguinea, spannende Abenteuer.

Unter dem Titel „Der Schweizerische Robinson“ bringt nun Die Andere Bibliothek die fantastische Geschichte in ihrer Urform heraus. Ein gewaltiger Band von über 1000 Seiten, wunderschön gestaltet und mit prächtigen, teils ausklappbaren Illustrationen versehen. Zwischen den Buchdeckeln tummelt sich das Leben: Die Schweizer Robinsons bekommen es auf ihrem Eiland mit allerhand Gefahren zu tun. Unter anderem erwehren sie sich einer Riesenschlange, eines Hais, eines Löwen, Wölfe und andere gefährliche Tiere treten auf.

In dem Buch toben sich allerhand Kinderfantasien aus. Die Familie lebt in einem Baumhaus, die Knaben Franz, Jack, Ernst und Fritz dürfen schießen, herumtollen und sich einen Affen halten. Kein Wunder, dass die Geschichte bis heute populär ist, 1960 unter anderem von Disney verfilmt, stark verfremdet, versteht sich.

Mit seiner Robinsonade hatte Johann David Wyss allerdings viel mehr im Sinn als bloße Unterhaltung. Tatsächlich ließ der technik- und naturinteressierte Autor sein Wissen über Flora und Fauna der Erde einfließen, um seine Kinder zu bilden. Maniok und Kartoffeln, Löwen und Wale – mehr als 100 Pflanzenarten und 150 Tierarten trägt Wyss in seiner Erzählung zusammen, ganz gleich, ob diese Lebewesen tatsächlich in der beschriebenen Region vorkommen oder nicht.

Zu guter Letzt diente ihm die Geschichte als Moralfibel. Immer wieder finden sich Ermahnungen und Richtlinien für die richtige und gottgefällige Lebensführung. „Denn jede Unwahrheit besteckt ein offenes Gemüth, und nur zu leicht artet sie in häßliche Lüge aus“, belehrt Wyss seinen Nachwuchs unter anderem.

Zur Veröffentlichung hatte der Pfarrer sein Werk niemals vorgesehen. Dies besorgte sein Sohn Johann Rudolf zwischen 1812 und 1827, allerdings mit Veränderungen. Ein Grund mehr, den Blick auf die Urschrift zu werfen und in die burleske Abenteuerwelt des Johann David Wyss abzutauchen. Es lohnt sich. Marc von Lüpke

Johann David Wyss: „Der Schweizerische Robinson“, Die Andere Bibliothek, Berlin, 2016, 1176 Seiten, 68 Euro


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No. 121April / Mai 2017

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