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Der Januar der Revolution
Der amerikanische Magnum-Fotograf Burt Glinn dokumentierte die ersten Tage nach Fidel Castros Sieg über Kubas Diktator Batista

SilvesterParty 1958 in New York. Der Magnum-Fotograf Burt Glinn feiert mit Kollegen, als sich am Abend die Eilmeldung verbreitet, Kubas verhasster Diktator Batista habe sich in Havanna soeben aus dem Staub der Revolution gemacht.

Glinn spürt, dass etwas Wichtiges passieren wird, und beschließt eine Stunde vor Mitternacht, nach Kuba zu fliegen, mit nichts als etwas unter Kollegen gesammeltem Bargeld und zwei Kameras. Als er am Neujahrstag in Havanna ankommt, ist unklar, wo sich der siegreiche Rebellenführer Fidel Castro gerade aufhält. Dieser hatte vor einigen Stunden in Santiago, im Süden der Insel, den Sieg der Revolution verkündet, nun soll er auf dem Weg in die Hauptstadt sein. Glinn fährt ihm entgegen.

Er ist nicht der erste ausländische Fotograf in Kuba, und er ist Castro auch noch nie begegnet. Er steht ihm sogar kritisch gegenüber. Und erst, als er nach fünf Tagen in Santa Clara, auf halbem Weg zwischen Santiago und Havanna, auf Castros Kolonne trifft und die Menschenmassen sieht, die dem Comandante zujubeln, versteht er diese Revolution.

Für zehn Tage wird er zu Castros Weggefährten. Glinns Bilder jenes Januars zeigen ausnahmslos Menschen in ihrem kollektiven multivalenten Taumel zwischen Euphorie, Rachsucht und banger Erwartung. Das Pandämonium ihrer Gefühle lädt seine Bilder mit einer Energie auf, die sich meist nur sichtbar machen lässt, wenn sich Großes ereignet.
Wo immer Glinn ist, erfasst ihn die aufgewühlte Stimmung der Menschen, nirgends sieht er Teilnahmslosigkeit. Er handelt im besten Sinn des fotografischen Imperativs: Er „hält drauf“ und dokumentiert das, was ist, in einer Intensität, die unter die Haut geht, situative Stimmungen, die kein Gedächtnis festzuhalten vermag: der Jubel eines Bauern an der Landstraße; Castro, der sich politischen Rat holt bei einer Lehrerin; der Mut im Gesicht eines Zuhörers von Castros Rede auf einem Dorfplatz; die stolze und angsterfüllte Suche einer Bürgerwehr nach Batistas Scharfschützen; feiernde Teenager und gefeierte barbudas, jene Rebellen, die sich ihre Bärte erst zu scheren geschworen haben, wenn der Albtraum der Diktatur zu Ende ist. Es sind meisterhafte Bilder eines Umsturzes, in jedem Schwarz-Weiß-Korn von körperlich spürbarer Authentizität.
Mehr historische Handreichung für Unkundige als nur zwei Vorworte hätte dem großartigen Band nicht geschadet. Aber wer hinsieht, dem erzählen Glinns Fotografien epische Geschichten. Karl Spurzem

Burt Glinn: „Kuba 1959“, Midas, Zürich, 2016, 192 Seiten, 59 Euro


Eine schöne Dosis Segelvirus
Marc Bielefeld zog auf sein Schiff und arbeitet seither von dort aus. Jetzt hat er eine „Gebrauchsanweisung fürs Segeln“ geschrieben

Die Gebrauchsanweisungen aus dem Piper-Verlag sind üblicherweise nette Bücher, die man sich kauft, bevor man irgendwo hinfährt. Verfasst sind sie von Leuten, die gut schreiben können und zu der betreffenden Region eine persönliche Beziehung haben. Sie sollen ein Gefühl für das Reiseziel vermitteln.
So ähnlich ist es auch mit der „Gebrauchsanweisung fürs Segeln“ von Marc Bielefeld, nur dass es nicht um ein Land geht. Sondern um ein Universum, in das eintaucht, wer ernsthaft anfängt, sich für das Segeln zu interessieren. Der Autor sitzt in der Kajüte seiner Yacht, klappt den Laptop auf und fängt an zu schreiben. Man setzt sich dazu, er erzählt. Alles schwankt ein bisschen, besonders wenn es windet. Bielefelds Buch ist kein Reiseführer für angehende Segler. Zwar erklärt er, warum ein Schiff schwimmt und wie der Wind es vorantreibt. Aber wer Segeln lernen will, braucht andere Bücher – so, wie Reisende neben den „Gebrauchsanweisungen“ in aller Regel Reiseführer kaufen. Dieses Buch ist hervorragend geeignet, wenn man einem Noch-nicht-Segler vermitteln möchte, warum es eben nicht egal ist, ob man bei schönem Wind segeln geht oder am Strand chillt, und warum Segler bereit sind, so viel Zeit, so viel Ressourcen in etwas zu stecken, was andere schlicht als Hobby bezeichnen.

Die Boote. Und das Wasser. Bielefeld versucht nicht, das zu erklären. Stattdessen zieht er Kreise um das Thema, erzählt von Menschen wie Reid Stowe, der vor einigen Jahren New York mit einem Segelschiff verließ. Erst war noch seine Freundin an Bord, die schwanger wurde und dann ausstieg – ohne ihn. Er segelte weiter. 1175 Tage lang. Stowe wollte nirgends ankommen. Er schrieb mit seiner Kurslinie unsichtbare Bilder in die See, ein mehrere tausend Seemeilen großes Herz. Als sein Sohn zwei war, stiegen Frau und Kind an Bord und kamen mit in die Karibik.

Marc Bielefeld lebt in diesem Universum. Vor ein paar Jahren ist er auf sein Schiff gezogen und hat angefangen, von dort aus zu arbeiten. Mit zweimal 15 Minuten Internet am Tag. Was offensichtlich reicht, um für dieses Buch auch einige der Großen der Segelszene zu kontaktieren – wie den Weltumsegler Wilfried Erdmann oder Larry Ellison, Milliardär, Segler und Besitzer des America’s-Cup-Teams von BMW Oracle Racing. Es sind solche Geschichten, die das Buch auch für passionierte Segler zum Vergnügen machen.

Die „Gebrauchsanweisung“ überrascht immer wieder. Manchmal ist sie vollgestopft wie ein Seesack. Dann wieder lässt sie sich Zeit, Geschichten zu erzählen. Wie die von der Frau mit rot geschminkten Lippen, die voller Zorn die Bierflaschen ihres Gatten an der Bordwand zerschmettert. Warum? Das weiß keiner. Aber deutlich wird, dass nicht jeder das Segeln auf die gleiche Weise liebt.

Das Buch endet mit einem Mutmachkapitel. „Natürlich können Sie es lernen“, heißt es da. Fast jeder könne es lernen. Segeln sei keine Hexerei. „Wenn ich ein Boot heil von A nach B segeln kann, können Sie es auch.“ Also: Wenn Sie jemanden kennen, den Sie gerne mitnehmen würden auf die Reise – kaufen Sie das Buch, binden Sie eine Schleife darum und hoffen Sie, dass es seine Wirkung entfaltet. Conny Gerlach

Marc Bielefeld: „Gebrauchsanweisung fürs Segeln“, Piper, München, 2016, 224 Seiten, 15 Euro


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 117. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 117

No. 117August / September 2016

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