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Empfehlungen aus Literatur, Musik, Film und Kulturleben

Kesse Quallen und geheime Fächer
Dass Bilderbücher gute Texte mit gelungenen Illustrationen vereinen, ist selten. Eine kritische Schau von Büchern aus dem Fantasiereich

Ein gelungenes Bilderbuch ist ein echter Hauptgewinn. Es ist selten, dass markante Bildsprache und ein starker Text zusammenkommen. Das liegt weniger am Fehlen begabter Illustratoren als an den oft dürftigen Texten. Dass außerdem die Frage „Ist das kindgerecht?“ in der Bilderbuchszene weitgehend verpönt ist, ist zwar gut für experimentierfreudige Bilderbuchkünstler, unerfreulich jedoch für die Käufer: Kinder können entgegen verbreiteter Ansicht nicht mit allem etwas anfangen. Die Geschichte der Königskinder, für die das Badewasser nicht zu tief ist, um doch zusammenzukommen, ist ein gutes Beispiel. In „Papierschiff ahoi!“ faltet ein Mädchen im roten Schwimmanzug in der Badewanne ein Papierboot, um darin übers Meer zu einem Jungen zu fahren. Der trägt eine kleine Papierbootkrone und fischt das Mädchen am Ende auf. Illustratorin Julia Friese hat hier eine kleine Allegorie der Sehnsucht in gelungene Bilder gefasst. Türkis- und Blautöne kontrastieren mit dem satten Rot des Badeanzugs und mit weißen Akzenten. Perspektivwechsel zwischen kleinem und groß gewordenem Papierboot, Wellengang oder nächtliche Schatten riesiger Fische im Mondlicht machen jede Seite zu einer Überraschung. Eine fesselnde Geschichte für Kinder ist dabei jedoch nicht herausgekommen, da hilft auch kein Stoffhase als treuer Begleiter des Mädchens.

Ein anderes Bilderbuch schafft es, die Klippen der Kritik auf einem Sonderweg zu umrunden: Im Nachlass des Erich-Kästner-Illustrators Walter Trier sind kolorierte Zeichnungen aus den 1940er-Jahren aufgetaucht, die sämtliche Näpfe des Farbkastens nutzen, um die Freuden der Seefahrt zu preisen. Echte Handlung gibt es allerdings keine. Scheinbar aus dem Handgelenk hat Harry Rowohlt nun jedoch je Seite einen gereimten Zweizeiler beigesteuert und schlägt dabei den Ton einer betulich-launigen Diavorführung an, gegen deren Charme man machtlos ist. „Was genau will die Robbenfamilie uns sagen? Lerne genießen, ohne zu klagen!“ Eine Großfamilie weiß gekleideter Sommerfrischler geht mit einem hängebärtigen Dampfschiffkapitän auf Fahrt. Ein Tukan mit Seemannskäppi reitet auf einem fliegenden Fisch, Wimpel wehen, ein Wal blubbert schmollmündig vor sich hin, ein Quallenmacho riskiert ’ne kesse Lippe („Ich bin der Kalle, pralle Qualle. Kannst ‚Kalle‘ sagen. Sagen alle“), und ein ethnologisch unkorrekt gekleideter Eingeborener im Josephine-Baker-Look grüßt von seinem Inselchen. Alles, was das Meer hergibt, präsentiert sich pittoresk im Licht einer breit lächelnden und schließlich gähnend im Meer versinkenden Sonne. Wer mag, liest Ironie hinein – wer nicht, freut sich einfach so daran.

Kinderbuchpiraten gibt es viele, doch dermaßen aufwendig wie in „Der Schatz des Captain Kidd“ sind sie noch nie in Szene gesetzt worden. In einer Kartontruhe mit Geheimfach wird diese üppig illustrierte, gelungene Kreuzung aus Sachbuch und Abenteuergeschichte geliefert. Sie zieht einen hinein ins Jahr 1701 und in die wenig anheimelnde Welt des Waisenjungen Jack. Dessen Großvater Ned war lange mit dem legendären Captain Kidd auf Kaperfahrt und taucht nun mit einer mysteriösen Truhe bei Jack auf. Leider sind auch viele miese Gestalten hinter Kidds Erbe her. „Echte“ Briefe, Karten und Hilfsmittel eröffnen Jack, Ned und den Lesern nun Schritt für Schritt den Weg nach Skeleton Island. Am besten löst man das Rätsel gemeinsam, denn ein langer Atem ist notwendig!

Zum Schluss noch etwas für Bilderbuchbibliophile: Der Schweizer Comickünstler Hannes Binder hat in der für ihn typischen Schabkartontechnik strenge, hintergründig spannende Panoramen zu Eduard Mörikes berühmtem Gedicht „Um Mitternacht“ geschaffen. „Gelassen stieg die Nacht ans Land“ lautet dessen erster Vers, und mit ihr schwappt bei Binder das Meer heran, mitten hinein in die Stadt. Wirklich? Auf anderen Bildern rauscht lediglich die Autobahn oder das Getriebe der sommerlichen Stadt in der Dämmerung. Nicht nur wegen des angenehmen Formats nimmt man das Buch immer wieder in die Hand – man wird einfach das Gefühl nicht los, dass sich auf den Bildern in der Zwischenzeit etwas Gewaltiges ereignet haben muss. Annette Zerpner

Jorge Luján, Julia Friese: „Papierschiff ahoi!“, ab 6, Bajazzo, 32 Seiten, 14,90 Euro

Harry Rowohlt, Walter Trier: „Der lustige Dampfer“, Dressler, 32 Seiten, 14,90 Euro

Oldrich Ruzicka, Jan Klimes: „Der Schatz des Captain Kidd“, ab 9, Bibl. Institut, 56 Seiten, 19,95 Euro

Eduard Mörike, Hannes Binder: „Um Mitternacht“, Bajazzo, 44 Seiten, 14,90 Euro


Fluss zum Meer
Eine gekenterte Yacht, ein Toter und ein Mann zwischen zwei Frauen: Ketil Bjørnstads Norwegen-Roman vereint Spannung mit Tiefgang

Das Meer ist ein wiederkehrendes Motiv seiner Bücher; kaum ein Autor hat so viele Bezüge zum Wasser wie der Norweger Ketil Bjørnstad. Bjørnstad wohnt selbst direkt am Oslofjord. „Das Meer in all seinen Gestalten zu erleben“, so philosophiert er im Kamingespräch, „ist eine beeindruckende Erfahrung. Allein der wechselnde Klang der Wellen ist eigen.“ Folgerichtig nimmt Bjørnstads neuer Roman „Der Fluß“ ebendort, am Meer, seinen Anfang.

Die romantisch angehauchte Harmonie eines Urlaubs an der Südküste Norwegens, den Aksel Vinding, der Icherzähler des Buches, im Ferienhaus einer Freundin verlebt, bekommt einen jähen Kratzer, als eine Yacht kentert. Es gibt einen Toten. Vinding beteiligt sich an der Rettung der Besatzung – ab hier rollt die Handlung, in der Bjørnstad Katastrophe gegen Idyll setzt, unerbittlich ab.

Bjørnstad vereint aufs Neue seine andere große Leidenschaft, die Musik, mit der Literatur. Er selbst ist, wie sein aus dem Vorgängerroman „Vindings Spiel“ bekannter Protagonist, ein namhafter Jazzpianist und Komponist, hat etliche Alben herausgebracht. Sicher also tragen autobiografische Motive ihren Teil bei; heutzutage, meint Bjørnstad, sehe er dies gelassen. Früher habe er Abstand davon genommen, seine Musik und seine Bücher zu verquicken. Auch Aksel Vinding will, wie schon in „Vindings Spiel“, da war er 15, Pianist werden. Nun wird er als 18-Jähriger gezeigt – tatsächlich sind die Bücher chronologisch, als die ersten beiden Teile einer Trilogie, zu lesen.

Vinding steht im Bann zweier gegensätzlicher, starker Frauengestalten. Da ist zum einen seine Klavierlehrerin Selma Lynge, die ihn zum großen Bühnendebüt führen will; sie selbst erhofft sich dadurch späten Ruhm. Da ist Marianne Skoog, die Mutter von Vindings an Magersucht gestorbener Freundin Anja. Sie will den Verlust ihrer Tochter gutmachen, indem sie wenigstens einen jungen Menschen in richtige Bahnen lenkt. Vinding beginnt mit ihr ebenfalls eine Beziehung. Flankiert von diesen beiden Frauen, dabei selbst ohnmächtig, erleidet Vinding die Handlung. Den Blick geheftet auf seine Mission, das Klavierspiel, sammelt er dennoch wertvolle Erfahrungen. Bjørnstads fast fotografisch gezeichnete Charaktere offenbaren Stück für Stück Tiefen und Untiefen der Seele. Den Hauptdarsteller lässt der Autor den schicksalsträchtigen Lauf der Dinge erst spät begreifen; nur nach und nach enthüllt sich Vinding die eigene Situation. Das Buch liest sich wie ein Krimi, konterkariert dies aber stets durch Tiefgang.

Immer wieder tritt das Wasser motivisch in Erscheinung. Bereits der Tod von Vindings Mutter in einem Wasserfall ist prototypisch. Auch der vereiste Fluss ist es, den Vinding überquert, um von der Welt der Klavierlehrerin in die der Geliebten hinüberzuwechseln. Wie Bjørnstad selbst inspiriert das Wasser auch Vinding: „Da höre ich den Rhythmus. Er kommt mit dem Wasser … Ich versuche mir den Rhythmus zu merken.“ Auch der Autor würde vom Meer nicht lassen: „Wenn du traurig bist, mache einen Spaziergang am Strand“, rät Bjørnstad. „Und du wirst spüren, was es bedeutet, etwas so außerordentlich Großem nahe zu sein.“ Carina Prange


Ketil Bjørnstad: „Der Fluß“,aus dem Norwegischen von Lothar Schneider, Insel, Frankfurt/Main, 2009, 382 Seiten, 22,80 Euro

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 77. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 77

No. 77Dezember 2009/ Januar 2010

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