Männer mit Bärenhunger

Für die frühen Arktisforscher war Eisbärfleisch lebensnotwendig. Übelkeit war noch die harmloseste Folge dieser Mähler

Am 4. April überfiel uns ein Eisbär morgens im Zelt, büßte seine Frechheit mit dem Leben und lieferte eine Kanne Fett (Brennmaterial für vier Tage) und viel Fleisch, von dem wir sogleich roh genossen.“ Das berichtete der Polarreisende Karl Koldewey, der zwischen 1868 und 1870 Leiter und Kapitän der ersten und zweiten deutschen Arktisexpedition war.

Heute ist der Eisbär das Vorzeigebeispiel einer geschundenen Kreatur, deren Lebensraum von Menschen vernichtet wird, doch vor anderthalb Jahrhunderten war das Verhältnis noch ein völlig anderes. Ganze Flotten waren auf dem Weg in den hohen Norden, um dort die letzten weißen Flecken auf den Landkarten zu tilgen. Es galt als nationale Aufgabe, neue Landstriche zu entdecken und so das Prestige des Vaterlands zu mehren. Selbst die dem Meer nur wenig zugeneigte Habsburgermonarchie wollte dabei mithalten. 1872 ging die Österreichisch-Ungarische Nordpolexpedition unter Carl Weyprecht und Julius Payer ins Eis. Immer wieder streut auch Payer in seinen Expeditionsbericht Episoden über Eisbären ein.

Eines Tages etwa nähert sich eine Bärin mit zwei Jungen. Payer findet es „anregend“, wie die Tiere miteinander umgehen, beschreibt die „große Zärtlichkeit“ der Mutter gegenüber ihren Jungen und vergleicht diese sogar mit Pudeln. Dann fallen sechs Schüsse, die Tierliebe hat ein jähes Ende gefunden. Die Bärin liegt tödlich getroffen auf dem Eis, ihre Kinder werden aufs Schiff gebracht, wo ein Fass zum „Kerker“ wird. Ungerührt gibt Payer das Ende der Geschichte zu Protokoll: „Sie fraßen alles, was man ihnen gab: Brot, Sauerkraut, Speck und dergleichen. Eines Morgens aber hatten die kleinen Übeltäter die Wache überlistet und sich geflüchtet. Allein sie wurden eingeholt, getötet, und gebraten erschienen sie auf dem Mittagstisch.“

Sentimentalitäten für possierliche Tierkinder lagen den Interessen der Polarfahrer des 19. Jahrhunderts denkbar fern. Deren Perspektive war gezwungenermaßen sachlich und folgte den harten Gesetzen der Natur, wie Payer es in seinen Schriften auf den Punkt bringt. „In der Tat sind die öden Gestade der Polarländer die wahre Heimat des Hungers; nirgends werden alle Berechnungen des Reisenden vom Magen so sehr beeinflusst als gerade hier. … Auf drei Nordpol-Expeditionen habe ich nur äußerst selten Reste von Tierleichen gesehen, niemals die eines Bären oder Fuchses. Der Mensch, der sich in diese Wüsten begibt, muss dem Grundsatz huldigen, alles zu essen, nichts wegzuwerfen!“

Das allerdings ist im Fall des Eisbären nur eingeschränkt richtig. Denn es gibt ein Organ des Ursus maritimus, das der Mensch nicht verzehren sollte: dessen Leber. Sie enthält so viel Vitamin A1, dass sie für uns nicht zu genießen ist. Wer es dennoch tut, zeigt schnell Anzeichen einer Hypervitaminose: Der Schädel brummt, Trugbilder erscheinen vor den Augen, der Magen entleert sich.

Als Erstem fiel diese Unverträglichkeit dem niederländischen Schiffszimmermann Gerrit de Veer auf. Er hatte den Abenteurer Willem Barents Ende des

16. Jahrhunderts begleitet, als der sich auf die Suche nach der Nordostpassage gemacht hatte. Auf Nowaja Semlja erlegte die Mannschaft regelmäßig Eisbären, einer wäre ihnen beinahe zum Verhängnis geworden, wie de Veer in seinem Schiffstagebuch festgehalten hat. „Der Tod des Bären verursachte uns aber mehr Schaden als sein Leben, dieweil wir seine Leber kochten und davon aßen. Es war ein schmackhaftes Gericht, aber wir erkrankten schwer, drei Maats sogar gefährlich. Wir befürchteten, dass wir sie durch den Tod verlieren würden, denn sie schuppten sich ab von Kopf bis Fuß.“

Alle, die später gen Norden reisten, hätten also gewarnt sein können. Dennoch stand auch beim amerikanischen Forscher Elisha Kent Kane, als er mit seiner Mannschaft in den 1850er Jahren im kanadischen Archipel nach dem verschollenen John Franklin suchte, regelmäßig Eisbär auf der Speisekarte. „Aus der Leber des jungen Bären hatte ich mir ein Abendessen bereiten lassen; doch es bekam mir schlecht: Es zeigten sich Symptome von Vergiftung, Schwindel, Durchfall und was dazugehört. Die gleichen Erfahrungen hatten wir schon bei einigen früheren Gelegenheiten gemacht, und ich sah nunmehr ein, dass der allgemeine Glaube an die Giftigkeit der Bärenleber mehr als bloßes Vorurteil war.“


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mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Dietmar Falk

Jeden Abend bändigt Dietmar Falk, Jahrgang 1965, den immer gleichen Eisbären: das Kuscheltier seiner Tochter, mit dem sie am liebsten einschläft. Da sie auch weiterhin ruhige Träume haben soll, wird er ihr diesen Text vorerst vorenthalten.

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Vita Jeden Abend bändigt Dietmar Falk, Jahrgang 1965, den immer gleichen Eisbären: das Kuscheltier seiner Tochter, mit dem sie am liebsten einschläft. Da sie auch weiterhin ruhige Träume haben soll, wird er ihr diesen Text vorerst vorenthalten.
Person Von Dietmar Falk
Vita Jeden Abend bändigt Dietmar Falk, Jahrgang 1965, den immer gleichen Eisbären: das Kuscheltier seiner Tochter, mit dem sie am liebsten einschläft. Da sie auch weiterhin ruhige Träume haben soll, wird er ihr diesen Text vorerst vorenthalten.
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