Männer, die vom Wind lebten

Seeleute von den Åland-Inseln umschifften Kap Hoorn noch auf Windjammern, als alle Welt längst Dampfer fuhr

Hilmer Johansson zeigt auf das Meer. „Dort draußen steht meine Wiege.“ Tatsächlich findet sich das Kinderbett des alten Mannes heute ein paar Meter unter Wasser – auf dem versunkenen Segelschiff seines Vaters. Seine ersten Lebensjahre verbrachte der Åländer Johansson auf diesem Schiff, er hat die Erdkugel als Kind und Kapitän umrundet: auf Windjammern, zuletzt 1936 an Bord des Viermasters „Pamir“.

Hilmer Johansson ist ein „Kap Hoornier von Åland“. Die „Amicale internationale des Capitaines au long-cours, Cap Horniers“, 1936 in Saint-Malo in Frankreich gegründet, ist der weltweit exklusivste Club, dem ein Seemann angehören kann. Nur jene wurden aufgenommen, die Guano, Weizen, Holz, Salpeter oder andere Fracht um das Kap Hoorn nach Europa gesegelt hatten. Auf Segelschiffen ohne Hilfsmotor, zu kommerziellen Zwecken, so wollten es die Statuten.

Die Zeit, in der das Segeln von Fracht ein rentables Geschäft war, schien 1936 in Europa beendet. Nur ein kleines Inselvolk mitten in der Ostsee widerstand der stürmischen Modernisierung der Handelsflotten. Noch. Der Reeder Gustav Erikson, sesshaft in Mariehamn, Åland, hatte just in diesem Jahr die größte – und letzte – Windjammerflotte der Welt unter seiner Flagge.

Åland besteht aus 6654 Inseln, Schären, kleineren Felsen, Klippen. 200 Eilande sind bewohnt. Das Land ist karg, flache Granitfelsen formen die Küste, in tiefen Buchten drängt das Meer bis knapp an die Straße. Verwachsene Pinien, Birkenstämme und Kiefern, der dünne Boden bedeckt von blendend weißen Schneeflächen. Stille fasst alles ein und kühle, frische Luft.

Obwohl seit 1918 zu Finnland gehörig, wird hier ausschließlich Schwedisch gesprochen, geschrieben und gelehrt. Die rund 25000 Åländer verteidigen dieses Erbe mit einer Mischung aus Sturheit und Stolz. Gegen jeden, der kam, und gegen die Finnen, die noch immer kommen. Als Touristen im eigenen Land. Sie kommen zu den spitzen Giebeln, den gestickten Gardinen hinter weißen Fensterrahmen, die Holzwände leuchtend dunkelrot, wie mit Ochsenblut gestrichen. Es ist die Farbe aller Häuser hier, der Höfe mit ihren massigen Ställen und den hauseigenen Windmühlen, den sauberen Herrenhäusern und den kleinen Saunahütten am Ufer. Ein wildes, blutdunkles Rot.

Aus seinem kleinen Volk von Seefahrern war es dem Reeder Erikson ein Leichtes, genügend qualifizierte Männer zu rekrutieren. Auf den Listen seiner 28 Segelschiffe standen in dieser Zeit mehr als 540 Seeleute. Auf der Viermastbark „Pamir“ zeichnete unter der Beschreibung „Segelmacher“: Hilmer Johansson, Vårdö. Seine Heuer betrug 550 Finnmark.

Der Schnee strahlt blau, als uns Hilmer Johansson an der Schwelle seines Hauses erwartet. Der Druck seiner großen Hände ist fest und sicher wie der Griff nach einem Hanftau. Hilmer Johansson eignet die lächelnde Ruhe eines Großvaters zur See. Er ist 85 geworden dieses Jahr. „Meine erste Heuer? Das war auf dem Schiff meines Vaters, vor Durban. Ich war gerade drei Wochen alt“, erzählt er schmunzelnd. Der Vater war Kapitän eines Dreimasters, die Mutter kam nach der Hochzeit an Bord.

Während des Ersten Weltkriegs spielte sich das Leben der jungen Familie Johansson fast nur an Bord ab. „Barcelona, Südamerika, dann Australien, Vancouver – wir waren überall.“ Als der Vater nach der Verlobung drei Jahre lang nicht nach Hause kam, fuhr die Mutter kurzerhand nach England, fand ihren Verlobten im Hafen, heiratete ihn, wurde schwanger.

„Sie hat ihn eingefangen“, lacht Hilmer Johansson und lässt seine Pranke auf das Kaffeetischchen niedersausen. Seine Frau Ulla, 83, schreckt auf. „Vad berätter du da?“, fragt sie ihn auf Schwedisch. „Was erzählst du schon wieder?“ Aber sie kennt diese Geschichte, es könnte ihre eigene sein. „Warten“, erzählt sie, „warten, warten, das war oft hart. Wie oft haben wir uns monatelang nicht gesehen.“ „Aber wir mussten ja segeln!“, ruft Hilmer. „Was sonst hättest du hier tun können? Lehrer werden, Pfarrer, für einen Bauern buckeln? Niemals.“ Zwei Jahre Dienst auf einem Segelschiff waren Bedingung, um später das Kapitänspatent zu erwerben. „Heute denkt ja jeder, man kann alles aus Büchern lernen.“

Hilmar Johansson schnaubt verächtlich. „Schau die Jungen an, die in die Seefahrtsschulen gehen: studieren fünf Jahre und haben die See nicht gesehen!“ Zu seiner Zeit lernten Seeleute ihr Handwerk an Bord. „Wir segelten für Brot. Wir aßen Pökelfleisch, das man übers ganze Schiff roch. Wir lebten, 16 Mann, monatelang im Deckshaus, so groß wie dieses Zimmer. Und die 35 oder 45 Tage ums Kap Hoorn segelten wir ungewaschen. Das war Gesetz.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 36. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 36

No. 36Februar / März 2003

Von Thomas Brunnsteiner und David Lundberg

Thomas Brunnsteiner, Jahrgang 1974, freier Journalist und Autor in Venejärvi (Lappland), verweigerte die winterliche Lieblingsbeschäftigung der Åländer Autofahrer: die halsbrecherische Rallye über das Eis von einer Insel zur anderen. Er nahm lieber den Umweg über die sicheren Brücken.

David Lundberg, geboren 1975, lebt als gebürtiger Åländer in Stockholm. Der freie Fotograf ist stolz auf seinen Großvater, der ebenfalls ein Kap Hoornier war. Im Mai 2003 treffen sich die Kap Hoorniers zum letzten Mal – um ihre Vereinigung aufzulösen. Aus diesem Anlass erscheint im marebuchverlag William Starks „Das letzte Mal ums Horn“. Ab März im Buchhandel erhältlich.

Mehr Informationen
Vita Thomas Brunnsteiner, Jahrgang 1974, freier Journalist und Autor in Venejärvi (Lappland), verweigerte die winterliche Lieblingsbeschäftigung der Åländer Autofahrer: die halsbrecherische Rallye über das Eis von einer Insel zur anderen. Er nahm lieber den Umweg über die sicheren Brücken.

David Lundberg, geboren 1975, lebt als gebürtiger Åländer in Stockholm. Der freie Fotograf ist stolz auf seinen Großvater, der ebenfalls ein Kap Hoornier war. Im Mai 2003 treffen sich die Kap Hoorniers zum letzten Mal – um ihre Vereinigung aufzulösen. Aus diesem Anlass erscheint im marebuchverlag William Starks „Das letzte Mal ums Horn“. Ab März im Buchhandel erhältlich.
Person Von Thomas Brunnsteiner und David Lundberg
Vita Thomas Brunnsteiner, Jahrgang 1974, freier Journalist und Autor in Venejärvi (Lappland), verweigerte die winterliche Lieblingsbeschäftigung der Åländer Autofahrer: die halsbrecherische Rallye über das Eis von einer Insel zur anderen. Er nahm lieber den Umweg über die sicheren Brücken.

David Lundberg, geboren 1975, lebt als gebürtiger Åländer in Stockholm. Der freie Fotograf ist stolz auf seinen Großvater, der ebenfalls ein Kap Hoornier war. Im Mai 2003 treffen sich die Kap Hoorniers zum letzten Mal – um ihre Vereinigung aufzulösen. Aus diesem Anlass erscheint im marebuchverlag William Starks „Das letzte Mal ums Horn“. Ab März im Buchhandel erhältlich.
Person Von Thomas Brunnsteiner und David Lundberg