„Manche können überhaupt nicht verstehen, wieso wir in Benidorm sein wollen“

Keine Lounges, kein Chill-out, keine To-go-Kultur, sondern gute, alte, unglobalisierte Lebensart – ein Urlaub in der Costa-Blanca-­Metropolis ist erfrischend gestrig

Benidorm ist ein hässlicher Ort. Benidorm ist ein schöner Ort. Zwischen diesen subjektiven Werturteilen liegen sieben Tage im Winter 2010, dem kältesten seit 20 Jahren. Wer ganz bewusst in jener Zeit soziologische Motivforschung betreibt, kommt der ungefähren Wahrheit über dieses ostspanische Reservat verborgener Strukturen, verbauter Träume, asphaltierter Sehnsüchte und betonierter Versprechen am nächsten.

Seinen schönsten Moment hat Benidorm zum Beispiel um 18.20 Uhr. Je kälter die Luft wird, desto wärmer gerät das Ambiente. Hinter Alicante geht die Sonne nieder, und das Licht – ewig mediterran, ewig leicht, ewig zart und leicht lasziv – ist jetzt dunkelgelb, der Himmel rosé gefärbt, der Sand umbra, das Meer anthrazit, die Zinnen, Plateaus und Vorsprünge des Aitanagebirges sind rostrot und die Bezüge der weißen Liegen am Levantestrand aquamarin. Wenn jetzt die hell leuchtenden Birnen der trapezartig gespannten Lichterkette anspringen, erfüllt eine unerhörte Sinnlichkeit diese größenwahnsinnige, scheußliche Stadt, es ist ein poetisches Glücksversprechen, welches, Geborgenheit, Romantik und Zuversicht vermittelnd, das raffinierte Vorspiel einer zwielichtigen Erotik des ewigen Frühlings ist.

Just zu dieser Zeit treffen sich in der „Cafetería Nuria“, Avinguda de Alcoi, direkt am Levantestrand, betagte Belgier und Briten, um bei klassischer Marschmusik ein holländisches Geburtstagskind mit „Brandy Napoleon“ zu beschenken. Zur selben Zeit treten einige hundert Promenadenmeter entfernt SeniorinnenSingles ins „Café Román“ ein, wohlsituierte Witwen aus der edel ausstaffierten Madrider Bourgeoisie mit umgelegter Pelzstola, einem Hauch von Senioren-Haute-Couture, alleinstehende Damen mit schneeweißem Kurzhaar, die ihre roten Ledermäntel ablegen, damit die Leopardenbluse zum Vorschein kommt, des Weiteren: distinguierte Ladys mit schwarzem Rollkragenpullover und schwarz lackierten Fingernägeln, die in diesen Minuten auf kleinbürgerliche Rentner aus Flandern, in sich versunkene Holländer mit Gehstock, arme Pensionäre aus der Liverpooler Arbeiterklasse, gut betuchte Unternehmer aus Rotterdam und veritable britische Charmeure mit Einstecktuch und Krawattennadel treffen. Die Seniorensingles in violettfarbener Seidenkrawatte trinken bereits süßen Limonenschnaps oder Bier, das Aroma von Zigarrenrauch, Anis und gegrilltem Fisch würzt die Luft, da endlich legt das Entertainerduo „Alamo“ los, dessen Keyboard ein gesamtes Orchester ersetzt. Es dauert drei Minuten „Are you lonesome tonight“, dann tanzt das erste Paar eine Art Walzer, zehn Minuten später werden es 30 Pensionäre sein, die zu ungeplanten Paaren werden, und es kommt vor, dass sie sich, während sie sich kennenlernen, bereits eng aneinanderschmiegen, Körper an Körper. Bei „I did it my way“ und „Strangers in the night“ um acht Uhr abends steigen oder fallen die Aktien auf der täglichen Partnerbörse im „Café Román“. Tanzlustige Señoras locken tanzmufflige Mister leicht verrucht mit dem Zeigefinger, und der Versuch originell ausgeführter Figuren auf engstem Raum erinnert an das Tanzkränzchen mit 17.

Nicht weit vom poesieträchtigsten Platz der Stadt, der mit Kacheln ausgeschmückten, von Jugendstillaternen bestandenen Plaça del Castell mit ihrer auf einem vorgelagerten Fels gezogenen Terrasse, befindet sich der Parc d’Elx mit Tausenden weißen Tauben und einem charmant konzipierten Palmenpark. Nachts treffen sich hier Schwule und Lesben aus aller Welt, und am ersten Sonntagmittag im kalten Winter 2010 singen, nein: zelebrieren spanische Seniorinnen und Senioren den „Camino verde“, ein sehr romantisches Volkslied. Anfangs sind es 40, dann 80 Singende, und wenn die Mitglieder dieses spontanen Gesangsvereins – manche augenstrahlend, manche weinend, alle unter Applaus – den Park wieder verlassen, werden es 100 gewöhnliche, einander unbekannte Männer und Frauen gewesen sein, die sich für einen kurzen Moment selbst das größte Glück verschafft haben. So wohltönend kann das ausklingende Leben sein, greift man es am Schopf. Benidorm ist ein schöner Ort. Benidorm ist ein hässlicher Ort. Die Stereotypen seiner Verachtung sind Legion: die kaum steigerbare Hässlichkeit der äußeren Erscheinung; die groteske Akkumulation hoher Häuser; die kartonartige Bettenburgarchitektur; die Absenz von Design, Fashion und zeitgenössischem Lifestyle; das Manko an Feinsinn, Raffinesse und Distinktion zugunsten der puren Vermassung; die Herrschaft der billigen Freuden und anspruchsloser Glücksverheißung; die Verprollung im Sommer und Vergreisung im Winter, kurzum: die ganzjährige Anwesenheit des niederen Stils und Abwesenheit einer höheren Idee. Bis heute haftet Benidorm der kulturgeschichtlich zweifelhafte Ruhm an, die größte Hochhausdichte der Welt zu haben. Von den 200 höchsten Gebäuden Spaniens stehen 140 in Benidorm. Die Stadt wird beherrscht vom Wettstreit der Ambitionen – nicht, was schöpferischen Wagemut oder architektonische Finesse anlangt, sondern den Mut zum inhaltsleeren Superlativ. Die Stadt wird regiert von zwei Prinzipien: der Vertikalen und der Masse.

Sind die Dörfer und kleinen Ortschaften an der Costa Blanca horizontale, das heißt in der Fläche verlaufende Angelegenheiten, strebt in Benidorm alles nach oben. Eine Art Größenwahn, Höhenwahn genauer. Der verfügbare Landbezirk zwischen Meer und Gebirge ist klein, der Boden teuer, also ist das Hochhaus die klügste Art der Massenmenschhaltung. Wer nach oben baut, hat unten Platz. Zudem haben die Oberen – die nicht notwendig die oberen Zehntausend sein müssen –, je höher, desto gravitätischer, eine herrliche Sicht auf das Meer, bis hinunter ins 60 Kilometer entfernte Alicante. Die Erhobenheit im Hochhaus erhebt auch den Bewohner über die niederen Umstände, denen er entstammt: In Benidorm kann der einfache Bürger am bestaunten Größenwahn teilhaben, zumal das Martinshorn der Benidormer Polizei sich anhört wie das der New Yorker.


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mare No. 79

No. 79April / Mai 2010

Von Christian Schüle und Nicole Strasser

Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in München und Wien und lebt als freier Autor in Hamburg. Zuletzt erschienen die Bücher Vom Ich zum Wir und Die Bibel irrt. Nachdem er in Benidorm einen regnerischen Abend lang zunehmend verzweifelt ein vernünftiges Lokal gesucht hatte, verbrüderte er sich schließlich in der „Morgan Tavern“ mit grölenden Rentnern aus Manchester bei Bier und Fritten zu den schlüpfrigen Witzen der Entertainerin Crissy Rock.

Nicole Strasser, 1975 geboren, studierte Bauingenieurwesen und sehnte sich nach zwei Jahren Arbeit als Statikerin nach einer lebendigeren Tätigkeit. So kam es, dass sie an der Fachhochschule Hannover Fotografie studierte. Die Bilderserie von Benidorm ist ihre Diplomarbeit und erste Veröffentlichung überhaupt.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in München und Wien und lebt als freier Autor in Hamburg. Zuletzt erschienen die Bücher Vom Ich zum Wir und Die Bibel irrt. Nachdem er in Benidorm einen regnerischen Abend lang zunehmend verzweifelt ein vernünftiges Lokal gesucht hatte, verbrüderte er sich schließlich in der „Morgan Tavern“ mit grölenden Rentnern aus Manchester bei Bier und Fritten zu den schlüpfrigen Witzen der Entertainerin Crissy Rock.

Nicole Strasser, 1975 geboren, studierte Bauingenieurwesen und sehnte sich nach zwei Jahren Arbeit als Statikerin nach einer lebendigeren Tätigkeit. So kam es, dass sie an der Fachhochschule Hannover Fotografie studierte. Die Bilderserie von Benidorm ist ihre Diplomarbeit und erste Veröffentlichung überhaupt.
Person Von Christian Schüle und Nicole Strasser
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in München und Wien und lebt als freier Autor in Hamburg. Zuletzt erschienen die Bücher Vom Ich zum Wir und Die Bibel irrt. Nachdem er in Benidorm einen regnerischen Abend lang zunehmend verzweifelt ein vernünftiges Lokal gesucht hatte, verbrüderte er sich schließlich in der „Morgan Tavern“ mit grölenden Rentnern aus Manchester bei Bier und Fritten zu den schlüpfrigen Witzen der Entertainerin Crissy Rock.

Nicole Strasser, 1975 geboren, studierte Bauingenieurwesen und sehnte sich nach zwei Jahren Arbeit als Statikerin nach einer lebendigeren Tätigkeit. So kam es, dass sie an der Fachhochschule Hannover Fotografie studierte. Die Bilderserie von Benidorm ist ihre Diplomarbeit und erste Veröffentlichung überhaupt.
Person Von Christian Schüle und Nicole Strasser