Makanas letzter Sommer

Eine Epidemie tötet Schildkröten. Woher kommt sie? Und warum jetzt? Die Biologen wissen keinen Rat

Vor unserem Tauchgang zu den Schildkröten hatte mich Ursula noch gewarnt: „Verguck dich bloß nicht in die Kleinen." In ein Meeresreptil vergucken? Ich? Ein Journalist mit 20 Jahren Erfahrung darin, Arbeit und Selbst auseinander zu halten? Kein Problem. Bis ich ein paar Minuten später Makana sah. Da hatte ich das Problem. Sie war eine von diesen „Kleinen", ich habe zu Hause Nudelteller, die größer sind. Sie war eine komische Figur, mit übergroßen Flossen, in die sie noch jahrelang nicht hineinwachsen würde, und neugierigen grauen Augen. Kann doch sein, sagte ich mir noch, dass journalistische Distanz bei Schildkröten nicht funktioniert. Aber da war die Debatte längst gelaufen. Makana hatte mein Herz erobert, und das war's.

Es war im Sommer 1998, ich war nach Hawaii gekommen, um ein Buch über eine Krankheit bei Schildkröten zu schreiben, die sich zu einer Epidemie ausgewachsen hatte: die Fibropapillomatose, kurz: FP. Meeresbiologen hatten zu diesem Zeitpunkt noch keinen Schimmer, was die Krankheit verursachte und die Epidemie auslöste, die einige Experten für die schlimmste halten, die jemals in der Natur ausgebrochen ist. Immerhin hielten sie die Auswirkungen dieser Schildkrötenpest für so gravierend, dass sie auch ein Aussterben der Grünen Meeresschildkröte, die sie auf Hawaii Honu nennen, nicht ausschließen konnten.

Meine beiden Tauchführer, Ursula und Peter Bennet, stammen aus Mississauga in Kanada. Sie ist Lehrerin, und er schreibt Handbücher für Computer. Die beiden sind nicht gerade wohlhabend, aber sie haben sich schon vor langer Zeit entschieden, auf die Annehmlichkeiten der Wohlstandsgesellschaft zu verzichten, um ihren Sommer auf Maui zu verbringen. An die Strände dort zieht es Touristen aus der ganzen Welt. Sie arbeiten an ihrer Sonnenbräune, sitzen unter Sonnenschirmen und nippen an eisekalten Drinks. Die Bennets erleben „Strandzeit" nur für den kurzen Moment, wenn sie ihre Ausrüstung zum Meer tragen. Ziel ihrer Tauchgänge war immer das Turtle House, eine Stelle, wo sich - ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt, in zwölf Meter Tiefe - die Honu versammelten. Auf dem Weg dorthin musste das Paar sich oft gegen starke Strömungen behaupten - und mit Haien rechnen. Waren die Bedingungen günstig, sind sie zwei, drei Mal am Tag hinuntergegangen. Es war es ihnen jede Strapaze wert, Zeit mit den Honu beim Turtle House zu verbringen, das in den letzten Jahren zu einem Brennpunkt der Epidemie geworden war.

FP ist eine schauerliche Krankheit. Ihr Markenzeichen sind grässliche Tumoren, violette bis schwarze Geschwüre, die so groß wie eine menschliche Faust werden können. „Gutartige" Tumoren, sagen die Wissenschaftler, aber die Tiere gehen trotzdem daran ein. Die Geschwülste überwuchern die Augen. Blind geworden, finden die Tiere keine Nahrung mehr, sie verhungern. Oder die Tumoren wachsen in Klumpen unter den Flossen. Sie schwellen an, bis die Schildkröten, die zum Atmen an die Oberfläche kommen müssen, nicht mehr schwimmen können und ertrinken. Auch die Innereien werden von FP attackiert - Tumoren entstehen in den Nieren, der Leber, der Lunge. Dann bricht bald der ganze Stoffwechsel zusammen. Oder das Immunsystem kollabiert, und die Schildkröte geht an einer Infektion zu Grunde, die sie normalerweise überstanden hätte.

Der merkwürdigste Umstand bei dieser Krankheit ist gleichzeitig der alarmierendste: FP war einmal sehr selten. Und doch hat sie sich in nur ein oder zwei Jahrzehnten zu einer weltweiten Epidemie ausgeweitet. Der erste Artikel über diese Krankheit überhaupt erschien in den dreißiger Jahren, und die Verfasser schrieben, dass drei von 200 in Florida untersuchten Schildkröten befallen waren. Aber dann folgte das halbe Jahrhundert, in der die Küsten „erschlossen" wurden. Der Mensch zerstörte die Mangrovenwälder und legte Feuchtgebiete, den Puffer zwischen Land und Meer, trocken. Gleichzeitig schwoll der Zufluss an Nährstoffen und Sedimenten ins Meer zu einer wahren Flut. Dazu kam noch der globale Temperaturanstieg, und bald verwandelten sich die Küstengewässer in eine gigantische Petrischale, in der sich alle möglichen infektiösen Erreger bestens vermehrten.

In den achtziger Jahren schoss die Zahl der FP-infizierten Grünen Meeresschildkröten in die Höhe, und die Krankheit ging auf andere Spezies über. Bis zum Ende der neunziger Jahre wurde FP bei allen sieben Schildkrötenarten diagnostiziert - in allen Meeren. Die Infektionsraten waren extrem: An den Küsten von Australien litten bis zu 80 Prozent der Schildkröten an FP. Ebenso in Florida. Am dramatischsten aber war die Lage am Turtle House auf Maui. An diesem Ort unter den Wellen, den kein Tourist jemals sah, waren mehr als 90 Prozent der Honu infiziert.


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mare No. 41

No. 41Dezember 2003 / Januar 2004

Von Osha Gray Davidson

Osha Gray Davidson, geboren in Iowa, wurde als Journalist und Wissenschaftsautor für den Pulitzerpreis nominiert. Während der Arbeit an einem Buch über Korallen erfuhr er von der Epidemie FP. Seither engagiert er sich für die Rettung der Meeresschildkröten. Sein Buch Die sanften Riesen - das rätselhafte Sterben der Meeresschildkröten erschien soeben im marebuchverlag.

Aus dem Englischen von Louise Kennedy.

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Vita Osha Gray Davidson, geboren in Iowa, wurde als Journalist und Wissenschaftsautor für den Pulitzerpreis nominiert. Während der Arbeit an einem Buch über Korallen erfuhr er von der Epidemie FP. Seither engagiert er sich für die Rettung der Meeresschildkröten. Sein Buch Die sanften Riesen - das rätselhafte Sterben der Meeresschildkröten erschien soeben im marebuchverlag.

Aus dem Englischen von Louise Kennedy.
Person Von Osha Gray Davidson
Vita Osha Gray Davidson, geboren in Iowa, wurde als Journalist und Wissenschaftsautor für den Pulitzerpreis nominiert. Während der Arbeit an einem Buch über Korallen erfuhr er von der Epidemie FP. Seither engagiert er sich für die Rettung der Meeresschildkröten. Sein Buch Die sanften Riesen - das rätselhafte Sterben der Meeresschildkröten erschien soeben im marebuchverlag.

Aus dem Englischen von Louise Kennedy.
Person Von Osha Gray Davidson