Mach ein Bild von mir, bevor es zu spät ist

Fünf Jahre sammelte ein Fotograf Bilder und Geschichten von belgischen Fischern. Sie dokumentieren eindringlich und anrührend die Härten und Wagnisse von Fischern, aber auch ihre unstillbare Sehnsucht nach dem Meer

William Delanoye
Sie nennen mich Ambiorix, du weißt wohl, warum. [Ambiorix war ein gallischer Freiheitskämpfer und bekannt für seine Barttracht.] Ich bin vier Jahre als Maschinist zur See gefahren. Danach habe ich einen Job auf einer Werft angenommen. Ich arbeite jetzt mit entlassenen Häftlingen, die in Freiheit noch einmal von vorne anfangen wollen, und baue mit ihnen Holzboote. Nein, ich vermisse das Meer nicht, kann ich auch gar nicht. Ich sehe es ja jeden Tag von meiner Arbeit aus.

Robert Rammeloo
Ich bin 1940 in Heist-aan-Zee geboren und mehr als 20 Jahre zur See gefahren. Nun bin ich Rentner, aber ich komme noch häufig in den Hafen und treffe meine alten Kameraden. Dann erzählen wir uns Geschichten von früher. Die zum Beispiel: Ein Fischerboot hat einmal den Sarg eines englischen Admirals herausgeholt, der auf See bestattet worden war. Da stehst du dann, in dem Glauben, wenn dein Leben einmal vorbei sei, könntest du in deinem Sarg auf dem Meeresgrund in Frieden ruhen, und dann wirst du von den Netzen eines Fischerboots wieder hochgezerrt. An Deck klappte der Sargdeckel auf, und alle haben sich wegen des Gestanks übergeben. Sie haben ihn wieder hineingeworfen, mit Sarg und allem.

Charles Deblauwe
Als junger Kerl ging ich manchmal mit der ganzen Familie hin, um unser „paai“ abzuholen, einen bestimmten Prozentsatz des Gewinns, und dann gingen wir damit in eine Kneipe. In „Bij den Slappe“ und „De Ferryboot“. Das waren nicht solche Puffs mit Neonlichtern, aber sie hatten Kellnerinnen mit großzügig ausgeschnittenen Dekolletés, und hin und wieder durfte man mal anfassen. Heute sind das alles Restaurants für Touristen. Auf meiner dritten Fahrt fuhr ich auf eine Mine auf. Das hat mir wirklich einen Schrecken eingejagt, aber meine Mutter sagte, ich müsse wieder an heuern. Wir brauchten das Geld. Ich musste mein Geld immer abgeben, bis zu dem Tag, an dem ich geheiratet habe. Als 23-Jähriger war ich einer der jüngsten Kapitäne im Land. Einmal ist ein griechisches Handelsschiff auf uns aufgefahren. Ich hatte sechs Monate lang Durchfall vor Angst, und als ich auf der Mole stand, fingen meine Knie an zu zittern. Vor den Stürmen hatte ich keine Angst, aber vor dem Nebel – das war ein Albtraum. Als ich anfing, zur See zu fahren, gab es noch keinen Radar. Ich kann mich noch an einen richtig dichten Nebel erinnern, und unser Matrose, der im Bug Ausschau hielt, sah drei grüne Bojen. Ich beschloss, den Anker auszuwerfen. Doch als der Nebel sich lichtete, sah ich, dass ich mitten in der Fahrrinne in der Nähe der Mole war. Ein irres Ding. Wenn wir rausfuhren, fingen wir nicht nur Fisch. Wir zogen alles Mögliche heraus, räumten das Meer auf. Wasserbomben, Torpedos, Wracks und einmal sogar das Cockpit eines Kriegsflugzeugs, in dem immer noch ein zerrissener Fallschirm lag. 1945 hatten wir mal einen toten Soldaten in unseren Netzen. Das Einzige, was noch zu identifizieren war, war seine Uniform; sein Gesicht war völlig unkenntlich. Wir warfen ihn zurück ins Meer und spülten unsere Fische ab. Ja, das waren andere Zeiten, das wäre heute nicht mehr möglich. 1957 zogen wir eine zwei Meter lange Magnetmine heraus. Wir wussten nicht, was es war; und da waren wir, weit draußen auf hoher See, und klopften darauf herum, um es herauszufinden. Für mich sah es einfach aus wie ein nettes, zylinderförmiges Souvenir. Als wir wieder in den Hafen einliefen, wollte der Hafenmeister wissen, was denn dieses Ding da sei auf unserem Deck. „Eine russische Sputnik“, antwortete ich. Nachdem es untersucht worden war, wurde in heller Panik das Sprengteam gerufen, der Hafen evakuiert und mein Schiff auf den Strand gezogen.


Johan Deley
Ich habe immer Stunk gemacht. Seit ich mich erinnern kann, ist das so. Meine Mutter konnte ein Lied davon singen. Als 13-Jähriger lief ich von zu Hause weg und ging auf meine erste Fahrt nach Island. Ich komme aus einer berüchtigten Fischerfamilie, allesamt Raufbolde. Mein Großvater war stark wie ein Pferd. Die halbe Besetzung der Polizeiwache musste kommen und ihn aus der Kneipe zerren, wenn er wieder mal einen durchs Fenster geschmissen hatte. Ich habe zu meiner Zeit auch ein paar Kerle vermöbelt. Es gab einen Haufen Schlägereien, besonders mit Marinematrosen. An den drei Tagen an Land zwischen zwei Fahrten hatte ich immer einen guten Kampf. Am Dienstag kriegte man einen auf die Fresse, und am Mittwoch hat man miteinander Bier getrunken. Aber meine Frau habe ich nach einem Streit nie zurückgelassen, ohne dass wir uns wieder versöhnt hätten. Ich wollte nicht mit schlechtem Gewissen rausfahren. Und dann war ich frei, an meine Frau zu denken, draußen an der frischen Luft auf dem Achterschiff. Und wenn mir die Eier zu sehr brannten, dann musste ich ein bisschen nachhelfen. Was erwartest du, wenn man so lange auf See ist? Das ist mein richtiges Leben. Ich bin stolz darauf, Fischer zu sein. Ja, ich bin ein Raubein, aber ich bin ein guter Mensch. Auf jedem Schiff baue ich Maria einen Altar und hänge ein geweihtes Kreuz an die Wand. Auf dem Altar zünde ich eine Kerze an für eine ruhige See und eine sichere Rückkehr. Manchmal denke ich, meine Gebete werden nicht immer erhört, wegen meiner ganzen Flucherei. Wir haben unser Schiff „Koning der Engelen“ auf See verloren. Die Koordinaten 59° 54’ N und 04° 01’ W haben sich mir ins Gedächtnis gebrannt, dort ist das Schiff untergegangen. Ich stand bis zu den Knien im Wasser, bin aber trotzdem ganz ruhig an Deck gegangen und habe noch vier Bier auf das Rettungsfloß mitgenommen, weil es vielleicht ein wenig dauern würde, bis der Hubschrauber aus Schottland käme, um uns aufzufischen. Es hat mich wirklich richtig umgehauen, dieses Schiff zu verlieren. Man kriegt zwar sowieso einen Monat frei, aber es hat noch mal sechs Monate gedauert, bis ich allen Mut zusammennehmen und wieder in den Maschinenraum hinuntergehen konnte. Nach dem Unglück hatte ich gerade noch 65 alte belgische Francs und hatte 25 Jahre wie ein Hund geschuftet. Das tat mehr weh als eine Faust im Gesicht.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 77. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 77

No. 77Dezember 2009/ Januar 2010

Von Stephan Vanfleteren

Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, Fotograf in Brüssel für Panos Pictures, wuchs an Belgiens Küste auf. Sein Nachbar war Fischer, und so kam es, dass er sich für diese „kleine anarchische Berufswelt“ interessierte. Mehr als fünf Jahre arbeitete er an seinem Fotoprojekt.

Mehr Informationen
Vita Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, Fotograf in Brüssel für Panos Pictures, wuchs an Belgiens Küste auf. Sein Nachbar war Fischer, und so kam es, dass er sich für diese „kleine anarchische Berufswelt“ interessierte. Mehr als fünf Jahre arbeitete er an seinem Fotoprojekt.
Person Von Stephan Vanfleteren
Vita Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, Fotograf in Brüssel für Panos Pictures, wuchs an Belgiens Küste auf. Sein Nachbar war Fischer, und so kam es, dass er sich für diese „kleine anarchische Berufswelt“ interessierte. Mehr als fünf Jahre arbeitete er an seinem Fotoprojekt.
Person Von Stephan Vanfleteren