Luxus, Ruhe, Sinnlichkeit

Mit der Langsamkeit, mit dem Bedacht, der Henri Matisse zu eigen war, näherte sich der in Nordfrankreich geborene Künstler Schritt für Schritt dem Süden an.

Wer seinen Fuß zum ersten Mal auf das Pflaster der Stadt Nizza setzt und binnen weniger Stunden deren einzigartiger Mischung aus italienischer Lebensart, kosmopolitischem Charme und maritimem Esprit erliegt, lenkt seine Schritte früher oder später in die verwinkelte Altstadt. Magnetischer Anziehungspunkt dieses kasbahartigen Dickichts aus engen Gassen, Barockkirchen, verschwiegenen Winkeln und gestylten Bars ist der Blumenmarkt Cours Saleya: eine langgezogene urbane Lichtung, die sich parallel zum Meer und zur mondänen Uferpromenade erstreckt. Eine Schneise des Müßiggangs, eine Achse des Wohlbefindens. Gesäumt vom Palast der sardischen Könige, einem verzuckerten Opernhaus à l’italienne, und zwei geduckten Reihen ehemaliger Fischerschuppen, den ponchettes, die nun Lokale beherbergen, in denen Touristen und die einheimische Jeunesse dorée zusammenfinden. Mal fungiert der Cours als üppig bestückter Viktualienmarkt, dann wieder werden Antiquitäten und rare Bücher feilgeboten. In den Wintermonaten bietet er wie ein innerstädtischer Patio Schutz vor Wind und Kälte, im Sommer genügen ein paar Schritte, und schon kann man sich in die azurblauen Fluten südlich des Platzes stürzen.

Am äußersten östlichen Ende des Cours Saleya, an der Place Charles-Félix, aber fängt ein markantes, altehrwürdiges Wohnhaus im genuesischen Stil den Blick. Es trägt eine schon etwas ramponierte ockerfarbene Fassade zur Schau, in den oberen Etagen ist es mit einem schmalen, umlaufenden Balkon ausgestattet. Hier residierte, ja thronte jahrelang, von einer unverstellten Aussicht auf Nizza, den Cours und die Engelsbucht profitierend, Henri Matisse. Matisse, der anfangs auch im Luxushotel „Beau Rivage“ Station gemacht hatte, das schon seit Generationen – wenngleich damals wesentlich bescheidener daherkommend – am westlichen Ende des Blumenmarkts steht. Matisse, von dem sich ohne Umschweife sagen lässt, dass er von allen großen Künstlern, die die französische Riviera beehrt haben, der markanteste und originellste Schöpfer gewesen ist. Und auch derjenige, der die meisten Spuren hinterlassen hat. In Nizza und im Hinterland der Côte d’Azur ist Matisse allgegenwärtig. Seine Jahrzehnte währende Präsenz an der blauen Küste, sein unbedingter Glauben an die Malerei als „Quelle ungetrübter Freude“, den er erst hier zur vollen Entfaltung bringen konnte, hat der Gegend ihren Stempel aufgedrückt.

Dabei herrschte beileibe kein Mangel an illustren Persönlichkeiten der Moderne, für die die elegante Grenzstadt und die Orte ihrer Umgebung den roten Teppich ausgerollt hatten. Prominente Dauergäste waren etwa Pablo Picasso, Matisse’ Freund und Rivale, der sich im Grimaldi-Schloss von Antibes in einen wahren Schaffensrausch hineinsteigerte und in Vallauris vorzügliche keramische Arbeiten anfertigte. Oder Jean Cocteau, der das Cap-Ferrat mitsamt dem Hafenstädtchen Villefranche-sur-Mer zu einer lebendigen Künstlerkolonie umfunktionierte, Fischerkapellen ausgestaltete und in Menton den Hochzeitssaal des Rathauses mit kühnen, mythologisch inspirierten Wandgemälden verzierte. Raoul Dufy und Nicolas de Staël setzten dem Küstenstreifen mit atmosphärischen Seestücken und betörenden Informel-Gemälden ein Denkmal. Gustav-Adolf Mossa schuf in Nizza seine verstörenden symbolistischen Bilderzyklen. Auguste Renoir zog sich am Lebensende ins verschlafene Cagnes-sur-Mer zurück. Yves Klein machte das phänomenale Indigo-Blau von Nizza unsterblich, Niki de Saint Phalle vermachte der Stadt einen Großteil ihres Erbes. Von der in den späten 1950ern den europäischen Kontinent erobernden aufmüpfigen École de Nice und ihren Hauptvertretern Ben, Arman oder Bernar Venet gingen Impulse aus, die bis heute weiterwirken. Und wer sich bei seinem Riviera-Besuch auf die bildende Kunst konzentriert, hat wahrlich die Qual der Wahl ob der dortigen Museumsdichte. Mit hervorragenden Einzelkünstlern wie Chagall, Léger, Bonnard und Cocteau gewidmeten Häusern. Mit den verführerischen Rothschild-Gärten, der antikisierenden Villa Kérylos und dem mit Miró- und Giacometti-Skulpturen geschmückten architektonischen Meisterwerk der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence.

Niemand unter den Vorgenannten freilich wird so sehr mit Nizza gleichgesetzt wie Matisse. Erst im Vorjahr wieder war der gesamte lokale Kulturbetrieb allein auf ihn ausgerichtet, mit acht Sonderausstellungen zu den unterschiedlichsten Aspekten seines Œuvres unter dem Motto „2013 – Ein Sommer für Matisse“. Dessen heutige Omnipräsenz auf Plakaten, Kunstdrucken und Postkarten erweist sich als weit weniger selbstverständlich, bedenkt man, dass Matisse erst in vorgerücktem Alter in die Hauptstadt der Alpes-Maritimes gelangte. Im Winter 1917 machte er ihr erstmals seine Aufwartung, als er schon auf die 50 zuging und sich Nizza, kriegsgebeutelt und klamm, gar nicht von seiner besten Seite präsentieren konnte.


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mare No. 106

No. 106Oktober / November 2014

Von Jens Rosteck

Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler, lebt und arbeitet in Nizza. Für mare schrieb er bereits über Eugène Boudin, Marguerite Duras, George Sand und Frédéric Chopin. Zuletzt erschien im marebuchverlag seine Inselbiografie „Mein Ibiza“.

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Vita Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler, lebt und arbeitet in Nizza. Für mare schrieb er bereits über Eugène Boudin, Marguerite Duras, George Sand und Frédéric Chopin. Zuletzt erschien im marebuchverlag seine Inselbiografie „Mein Ibiza“.
Person Von Jens Rosteck
Vita Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler, lebt und arbeitet in Nizza. Für mare schrieb er bereits über Eugène Boudin, Marguerite Duras, George Sand und Frédéric Chopin. Zuletzt erschien im marebuchverlag seine Inselbiografie „Mein Ibiza“.
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