Lügen in Zeiten der Aufklärung

Auch Seeleute des Mittelalters wussten schon, dass die Erde keine Scheibe ist. Eine Rehabilitation der Geschmähten

Als Marco Polo in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nach Java kommt, stellte er fest, dass die Seeleute südlich des Äquators nicht den Polarstern, sondern südliche Sternenformationen zur Navigation nutzten. Das bedeutet, dass Polo den Polarstern für ein Zeichen hielt, an dem man sich auf dem Meer orientieren konnte, und für ebenso selbstverständlich hielt er es, dass man südlich des Äquators andere Sterne nutzte. Dieser Sachverhalt enthält jedoch noch eine weitere erstaunliche Information: Polo beschrieb mit keinem Sterbenswort die Angst, die er eigentlich durchlebt haben müsste, als er auf seinem Weg den Äquator passiert hatte. Keine Erdscheibe offenbarte hier ihren Rand, von dem aus nur noch der Absturz ins gähnende Nichts des Universums möglich war, begleitet von gleichfalls hinabstürzenden Wassermassen. Des Rätsels Lösung: Polo hielt die Erde für eine Kugel, weshalb es ihn auch nicht wunderte, wie der Polarstern auf dem Weg nach Süden verschwand, wie andere Sterne auftauchten und dass die Erde sich in schöner Wölbung nun auch weiterhin nach Süden erstreckte.

Polo war kein Astronom, sondern ein Praktiker des Raumes im Mittelalter. Er zeigt uns mit seinen Beobachtungen, was er gelernt hatte, ehe er auf Reisen ging. Er war aber keineswegs allein. Dieses Wissen teilten sich von der Spätantike bis zum Aufbruch der Portugiesen und Spanier viele Intellektuelle Europas.

Das kosmologische Denken der Antike und des europäischen Mittelalters war das gleiche. Platon hatte die Frage nach der Form von Erde und Universum zugunsten der Kugel oder Sphäre gelöst. Es sei bezogen auf die Erde falsch, „unten“ oder „oben“ zu sagen; was für uns „oben“ ist, ist für die Menschen auf der anderen Seite „unten“ und umgekehrt. Ebenso verwarf er die Vorstellung von „oben“ und „unten“ mit Blick aufs Weltall: Angesichts seiner Kugelgestalt sei es sinnvoll, von „innen“ und „außen“ zu sprechen.

Das Ganze wird nach antiker und mittelalterlicher Vorstellung im Zug der Strukturbildung der Materie beim Akt der Schöpfung folgendermaßen angefüllt: Im Zentrum des Universums bilden nach innen strebende Atome des Elements „terra“ eine Kugel, die Erde. Darüber liegt eine Sphäre aus dem leichteren Element Wasser, die Hydrosphäre. Es folgt in einer konzentrischen Sphäre das nächste Element „aer“ (Luft) in der Atmosphäre. Ganz außen befindet sich schließlich eine Sphäre aus den Atomen des leichtesten Elements, des Feuers, das wir an den Himmelskörpern und den Sternen erkennen. Das alles merkt man sich durch eine Faustregel: Das Universum ist beschaffen wie ein Ei. Das Gelbe in der Mitte ist die Erde; darum liegt die Dotterhaut, das Wasser; darum das Eiweiß, die Atmosphäre; am Ende folgt die Schale, die so fest ist wie das Firmament. Die Zuordnungen können abweichen, das Prinzip bleibt das gleiche. Mit dem Eimodell wird merktechnisch das Wissen von kosmologischen Prinzipien bewahrt, erinnert und über Jahrhunderte gesichert. Es wundert nicht, dass die Kirchenfrau Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert die Erde als „arenosus globus“, als sandige Kugel beschreibt. Das große astronomische und kosmologische Werk des Mittelalters, nach dem alle Universitäten lehren, „Machina mundi“ des Engländers Johannes de Sacrobosco (John of Hollywood) von 1220, tut ein Gleiches.

Befindet sich nach diesen Thesen im Zentrum des Universums die Erdkugel, dann kann folglich das Himmelsgeschehen zur Orientierung genutzt werden. Ptolemaios, dessen Wissen auf Latein durchs Mittelalter tradiert wurde, hatte mit Blick auf die Sonne bestimmt, bei wie viel Grad nördlicher Breite der Polarkreis beginnt, wo der nördliche Wendekreis liegt und wie sich jenseits des Äquators das Gleiche mit südlichem Vorzeichen wiederfindet.

Für die Orientierung und die Zeitmessung des Nachts war der Polarstern am wichtigsten. Bewegt man sich nach Norden, steigt er gemäß der auf der Erde zurückgelegten Strecke Grad um Grad an. So wurde die Polhöhe als ein Maß erkannt, mit dem die Entfernung zwischen zwei Orten auf der Erde ermittelt werden kann. In der Praxis bedeutete dies, dass man bei einer Fahrt in Richtung Westen nur darauf achten musste, dass der Pol in konstanter Höhe blieb. So war gesichert, dass man genau westwärts fuhr.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 63. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 63

No. 63August / September 2007

Von Reinhard Krüger

Professor Reinhard Krüger ist Literatur- und Kulturwissenschaftler, lehrt romanische Literaturen an der Universität Stuttgart, ist (Mit-)Herausgeber einiger Schriftenreihen und Zeitschriften sowie Verfasser von Büchern und zahlreichen Aufsätzen zur Archäologie der Globalisierung. Eines seiner Mottos stammt von Francis Picabia und heißt: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ Es ist möglich, dass dies in mehrfacher Hinsicht etwas mit dem Thema dieses Essays zu tun hat.

Mehr Informationen
Vita Professor Reinhard Krüger ist Literatur- und Kulturwissenschaftler, lehrt romanische Literaturen an der Universität Stuttgart, ist (Mit-)Herausgeber einiger Schriftenreihen und Zeitschriften sowie Verfasser von Büchern und zahlreichen Aufsätzen zur Archäologie der Globalisierung. Eines seiner Mottos stammt von Francis Picabia und heißt: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ Es ist möglich, dass dies in mehrfacher Hinsicht etwas mit dem Thema dieses Essays zu tun hat.
Person Von Reinhard Krüger
Vita Professor Reinhard Krüger ist Literatur- und Kulturwissenschaftler, lehrt romanische Literaturen an der Universität Stuttgart, ist (Mit-)Herausgeber einiger Schriftenreihen und Zeitschriften sowie Verfasser von Büchern und zahlreichen Aufsätzen zur Archäologie der Globalisierung. Eines seiner Mottos stammt von Francis Picabia und heißt: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ Es ist möglich, dass dies in mehrfacher Hinsicht etwas mit dem Thema dieses Essays zu tun hat.
Person Von Reinhard Krüger