Logbuch der Flaute

Wenn jeder Wind fehlt, kommt die Zeit zum Stillstand

„Der Wind kommt nicht wieder. Trotzdem fühle
ich mich mit jedem Morgen unbeschwerter, glücklich
zu leben, glücklich, dieses ganze Leben um mein Schiff
herum wahrzunehmen.“
– Bernhard Moitessier


Ich wusste, dass auch diese Wahrnehmung nicht der Realität entsprach, trotzdem schrieb ich sie ins Logbuch: Fischtrawler querab, schwer auszumachen. Der Tanker vor vier Tagen war ebenfalls ein Trugschluß, dennoch vermerkte ich auch ihn unter der Rubrik „Bemerkungen“. Bei dieser Flaute, die sich schon über viele Tage hinzog, störte mich die Vermeintlichkeit dieser Beobachtungen nicht, stimmten doch alle anderen Logbucheintragungen wie Zeit, Ort, Kurs, Wind, Wolken, Motorlaufzeit und Besegelung.

Die einzige Veränderliche war die Zeit. Der Ort war seit Tagen derselbe, unter Wind stand die Ziffer Null, bei Wolken: zu hundert Prozent bedeckt, Motorlaufzeit: im Leerlauf eine Stunde täglich Batterien aufladen. Unter Besegelung trug ich bereits am ersten Tag der Flaute ein: zweifach gerefftes Großsegel; um der schwankenden Yacht in der Dünung des Indischen Ozeans, etwas südlich des Äquators, mehr Halt zu geben.

Weiter schob sich unsere Yacht von Wellenkamm zu Wellenkamm, hob dabei immer den Bug ein wenig, luvte leicht an, etwas mehr Zug kam auf die Genuaschot, ein kleines Knarren des Schotblocks; dadurch erhielt die Windfahnensteuerung mehr Druck, sie glich das Anluven mit leichtem Gegendruck aus und brachte uns wieder auf den alten Kurs zurück. Alles war im Einklang auf dem Boot, mit dem ihm Verbundenen, Verschäkelten und Verlaschten. Am wiederkehrenden Knarren des Blockes spürten wir seit Tagen die Gleichmäßigkeit des Passatwindes. Westlich von Sumatra, auf 6° Süd und 91° Ost, fingen die Segel an zu schlagen. Wir haben die Doldrums erreicht, das Gebiet der umlaufenden, geringen Winde und Flauten.

In dem Moment, da der Vortrieb des Bootes ausfällt, übernimmt trotz Stützsegel der noch starke Wellengang die Yacht. Fallen schlagen gegen den Mast, die Werkzeugkiste rutscht und rutscht, Bücher knallen gegen Bücher. Früchte, noch vom Markt in Denpasar auf Bali, dem buntesten der Welt, kullern in der kleinen Hängematte gegeneinander. So wie es die fürchterlichen Geräusche im Sturm sind, die eine Crew besonders zermürben können, so sind es in Flauten die ewig wiederkehrenden Kling-klang-klongs, deren Penetranz über unsere Ohren zu den Nerven dringt. Nach einer Stunde Geräuschbeseitigung hören wir noch das regelmäßige Klicken eines metallenen Gegenstandes in einem Küchenschapp, aber wir finden nichts. Es wird uns zwölf Tage verfolgen. Klick...klick...klick...

Die Flaute hat uns. 600 Seemeilen östlich liegt Sumatra, 1300 Seemeilen vor uns Sri Lanka. Es erübrigt sich die Frage nach einem neuen Zielhafen. Unser Hafen ist hier. Kein Festmachen, keine Liegegebühr, kein mühsames Einchecken, keine Beamten, die nach Playboy-Magazinen, Zigarettenstangen und Whisky fragen, aber auch keine Segelfreunde beim abendlichen Bier.

Ähnlich wie vor einem großen Törn oder einem zu erwartenden Sturm haben wir das Schiff sicher gemacht, flautensicher. Aus dem aktiven Skipper mutiere ich in den passiven Homo tropicus. Ein Phlegma wird sich über uns legen – die Begriffe „flau“ und „Flaute“ sind eng verknüpft. Kein Wind in den Tropen bedeutet: Der kühlende Ventilator ist abgestellt. Thermometer und Hydrometer steigen schnell im Schiff an und damit auch der Durst. Obendrein tut es der Kühlschrank seit Monaten nicht mehr, und das Wasser aus der Dusche ist lauwarm. Na und?

Ich kenne Flauten auf anderen Schiffen. Crews werden gleich einer Influenza von Windstillen gereizt, kleinste Begebenheiten können große Folgen haben. Es ist für den Menschen unheimlich, den Schiffsstillstand zu spüren, sich nicht zu bewegen, zu wissen, daß es kein Fortkommen gibt. Schnell wird aus Ruhe Unruhe. Nur ein kleines Geräusch – wir kennen das aus klassischen Piratenfilmen, wenn die Sonne brennt, das Schiff dümpelt und ein nicht fest gelaschter Block gegen eine Want schlägt, immer wieder –, die Stimmung kippt, aufgestauter Zorn explodiert. Oder es gebiert die Flaute gar eine Meuterei. Ganz anders bei Sturm: Da existiert eine Gefahr, die alle in gleicher Weise bedroht, die man gemeinsam bekämpfen muß. Stürme halten die Mannschaft zusammen, Flauten trennen sie.

Ich habe mir bei meinen Ozeantörns schon lange die Frage abgewöhnt: Wann komme ich an? Mir ging es beim Segeln auf hoher See immer um das Dasein, um das da sein, hier, an dieser Stelle. Fälschlicherweise hat es sich ein-geprägt, daß unter Segeln nur Sonnentörns mit drei bis vier Beaufort zu verstehen sind. Diese Ansicht kulminiert in dem englischen Spruch: „Good sailing is one day out of ten“, nämlich bei schönem Wetter. So ist es nun mal verankert, daß nur die Stürme Helden gebären. Nicht umsonst trägt das weltweit meistverkaufte Segelbuch den Titel „Schwerwettersegeln“. Aber über Flauten gibt es kein Buch. Bei einer Flaute schmeißt man den Motor an und kriecht mit lächerlichen sechs Knoten und 90 Dezibel Geräuschpegel dem Ziel entgegen. Und keiner fragt dort: Erzähl doch mal, wie war’s denn in der Flaute?

Das Auffälligste nach einer Rückkehr von Bord ist immer der konstante Geräuschpegel der Großstadt. Der entwöhnte Hörsinn muß das Dröhnen von fernen Schnellstraßen, das Hupen, das Bremsen und Starten an den Ampeln ertragen. Geräusche, mit denen ich groß geworden bin, die ich vorher nie als störend empfunden hatte, die mich aber in den ersten Wochen meiner Rückkehr geradezu bedrohten. Die Ruhe während der Reise war selten eine absolute Ruhe, denn klatschende Segel, schmatzendes Wasser, knarrende Blöcke, die scharrende Angelrolle begleiteten uns. Aber die Ruhe beim Segeln steigert sich noch in der Flaute. Wenn der kaum erkennbare Schwell des Ozeans einmal zum Stillstand kam, dann nahm die wahre Ruhe Oberhand. Dann wurde aus Ruhe Stille. Und die legte sich wie ein Tuch über den Ort. Die Stille bekam Körperlichkeit, ich merkte wie nie zuvor die eigene Präsenz.

Zeit haben wird immer mehr als ein seltenes Gut angesehen. Selbst wenn wir uns den Luxus gönnen, uns Zeit zu nehmen, sind wir dennoch von Terminen abhängig. Das ändert sich schnell, wenn man den Hafen verläßt und sich auf eine lange Seereise begibt. Muß man sich im Hafen noch um die Öffnungzeiten von Behörden, von Läden, des Hafenmeisterbüros kümmern oder nach der Tide richten, gibt es auf See keine zeitlichen Determinationen mehr. Wann mit wem auf Kurzwelle oder Amateurfunk sprechen? Wann die Navigation ausführen? Wann das Logbuch schreiben? Nichts unterliegt einem vorgegebenen Schema. Selbst die Wacheinteilung haben wir nicht zeit-ernst genommen. Gibt es beim Segeln für den Bordalltag noch einen individuellen Rhythmus, löst dieser sich in einer Flaute auf. Wenn Zeit eines der wesentlichen Luxusgüter ist, dann wird mir in dieser lang anhaltenden Flaute deutlich, welch positive Bedeutung Begriffen wie Muße, „lange Weile“ oder „Zeit haben“ zukommt.

Eine lange Windstille nimmt dem Segler auch die letzte Entscheidung ab: Wann sind wir am Ziel? Aber sobald ich mich entscheide, den Motor anzuwerfen, um aus diesem Windloch zu gelangen, unterwerfe ich mich wieder einer zeitlichen Bestimmung – und weg ist der Luxus der Zeitlosigkeit. Der Genuß war mir erst nach tagelangem Liegen im Becken der Doldrums bewußt geworden. Ich mußte mich fragen: Waren es zwei, drei oder vier Tage, die wir hier dümpelten? Hatte ich die Luke tatsächlich repariert oder wollte ich es heute erledigen? Die Zeit und ihre Bezüge wurden irreal. Die reale Zeit schien sich losgesagt zu haben; sie schien entglitten – ähnlich Dalís Gemälden mit den aufgeweichten Uhren.


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mare No. 11

No. 11Dezember / Januar 1998

Von Klaus Hympendahl

Klaus Hympendahl, geboren 1939, lebt als Publizist in Düsseldorf und Bodrum, Türkei. Von 1986 bis 1990 segelte er um die Welt. Zur Zeit schreibt er an einem Roman über das Weltklima

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Vita Klaus Hympendahl, geboren 1939, lebt als Publizist in Düsseldorf und Bodrum, Türkei. Von 1986 bis 1990 segelte er um die Welt. Zur Zeit schreibt er an einem Roman über das Weltklima
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Vita Klaus Hympendahl, geboren 1939, lebt als Publizist in Düsseldorf und Bodrum, Türkei. Von 1986 bis 1990 segelte er um die Welt. Zur Zeit schreibt er an einem Roman über das Weltklima
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