Live Fast, die Young

Die Suizidrate Grönlands ist die höchste der Welt, vor allem die der Jugendlichen ist erschreckend. Die Gründe hierfür liegen im ver­lorenen Selbstverständnis der Bewohner der arktischen Insel

Skraldy steht in einem halb offenen Boot, in der Hand ein Gewehr. Er hat eine Robbe entdeckt, die den Kopf aus dem Wasser steckt, irgendwo zwischen Trümmerstücken des Archipels aus Eisbergen. In diesem Meeresarm unweit eines Gletschers der Diskobucht im westlichen Grönland scheint die Zeit eingefroren zu sein. Eissturmvögel schweben in der Luft, Wellen schlagen sanft gegen Eisschollen. Skraldy, der eigentlich Kristian Møller heißt, aber nur mit seinem Spitznamen angesprochen werden möchte (skrald, dänisch für „Müll“), scheint für die zaghafte sommerliche Kälte unempfindlich. Er ist ganz auf den kleinen Punkt in der Ferne konzentriert. Noch ist die Ausbeute seiner heutigen Ausfahrt eher enttäuschend. Wenn sie wütend auf Menschen ist, weil sie ein Tabu missachten oder es an Respekt gegenüber der Natur vermissen lassen, soll, einem alten Mythos zufolge, die Göttin Sassuma Arnaa, die Mutter des Meeres, die Fauna des Wassers in ihrem wallenden Haar verbergen.

Unverdrossen Ausschau haltend, wendet Skraldy sich um. Eine geschwollene Narbe verunstaltet die ganze linke Seite seines Gesichts, Spur eines Dramas, dem er nur knapp entgangen ist. Bei einer feucht-fröhlichen Feier, er stand kurz vor seinem 20. Geburtstag, nahm er ein Gewehr und versuchte, ­seinem Leben ein Ende zu machen. Wie durch ein Wunder drang die Kugel durch seine Wange, ohne den Schädel zu berühren. Warum hat er das gemacht? Er erinnert sich nicht, oder er will es nicht. Als hätte ihn etwas unaussprechlich Böses unvermittelt angesprungen, aber sein Ziel verfehlt. Er weicht der Frage aus, wendet sich zum Bug, legt an und schießt unversehens auf eine weit entfernte Robbe, die er um wenige Zentimeter verfehlt. 15 Jahre nach seinem Selbstmordversuch ist er unterdessen Vater und bei der Stadtverwaltung von Ilulissat angestellt. Er managt den „Klub“, ein Haus, in dem sich Jugendliche beschäftigen können und das während der Schulferien oft gähnend leer ist.

Skraldy ist kein Einzelfall. Nicht weit von hier, in Qeqertarsuaq, erzählt Mark, ein junger Tischler, die Geschichte von Jan und zeigt dabei auf den Hafen der Stadt. Jan [Name von der Redaktion geändert] war ein netter, stiller Teen­ager. Er lebte allein mit seinem Vater, der sich sehr um ihn kümmerte. Eines Abends im Winter verließ er unvermittelt sein Zimmer und ging wortlos hinaus in den Schnee, barfuß. Sein Vater war in der Küche. Er sah, wie sein Sohn das Haus verließ, und lief hinterher, um ihn aufzuhalten. Es war neblig. Ihn zu finden war ein Ding der Unmöglichkeit, weil sich seine Spuren mit denen anderer Menschen, von Schneemobilen und Grönlandhunden vermischten. Das ganze Dorf machte sich auf die Suche. Schließlich entdeckten sie an einem normalerweise verlassenen Ufer der Bucht Fußspuren. Sie führten zum Meer, das seit Jahren nicht mehr richtig zugefroren war. Dann nichts mehr. Es war, als habe Jan zu dem unter Wasser liegenden Grasland gehen wollen, dem Totenreich, das alte Mythen aus vorkolonialer Zeit dort verorten. Im darauffolgenden Sommer haben Jugendliche die Leiche des Jungen am Ufer gefunden.

Selbstmordepidemie?
Jeder Grönländer weiß von zumindest einem Verwandten, der sich das Leben genommen hat. Manche meinen, dass sich jeder Grönländer irgendwann mit finsteren Gedanken herumschlagen musste. Besonders verbreitet ist diese Geißel unter Jugendlichen: Ihre Selbstmordrate ist die höchste der Welt. Der rasante Anstieg der Zahlen begann Ende der 1960er-Jahre. Davor wurden aber kaum je Zahlen erhoben. Deshalb fällt es schwer, die historischen Gründe für dieses Phänomen zu benennen. Per Kunuk Lyberth-Lynge, Lehrer im Ruhestand und Autor, weist darauf hin, dass der weitaus größte Teil der Selbstmörder männlich ist, auch wenn die Zahlen für junge Frauen in den letzten Jahren kontinuierlich steigen. Er selbst führt das darauf zurück, „dass die männlichen Jugendlichen, die wegen ihrer Rolle als Jäger und Ernährer in den Inuitfamilien traditionellerweise bevorzugt wurden, das Gefühl haben, an Bedeutung zu verlieren“. Sie haben Mühe, so Kunuk weiter, ihren Platz in einer Gesellschaft zu finden, in der sie nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Aber was ist mit jenen jungen Menschen, die die Zeit, in der die Jagd das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens bildete, gar nicht mehr kennengelernt haben?

Eine andere Hypothese führt die hohe Selbstmordrate auf fehlendes Sonnenlicht während des Polarwinters zurück. Diese Erklärung ist wenig überzeugend. Die meisten Selbstmorde ereignen sich im Frühjahr oder im Sommer. Hinzu kommt, dass sich die Sonne auch 1960 schon so verhalten hat, ohne dass die Selbstmorde solche Ausmaße angenommen hätten. Zu beachten ist zudem, dass Grönland enorm groß ist – die Dauer der Sonneneinstrahlung ­differiert beträchtlich. Und doch gibt es bei den Suizidfällen keinen signifikanten Unterschied zwischen Orten im Norden und Orten im Süden. Umgekehrt haben andere Regionen rund um den Pol mit gleichen Lichtverhältnissen nicht so viele Tragödien zu beklagen.

Die Anthropologin Janne Flora warnt vor voreiligen Interpretationen der Selbstmordrate. Sie gibt zu bedenken, dass bei kleinen Zahlen ein Effekt wie bei einem Vergrößerungsglas eintritt. Die Werte werden stets für 100 000 Bewohner angegeben. Grönland hat aber nur 56 000 Einwohner. Das führt dazu, dass die Quote steigt, aber nicht, weil die absolute Zahl an Suiziden so hoch wäre, sondern weil die Anzahl der Menschen, auf die sie umgelegt wird, so klein ist. Nimmt man einen Ort mit 100 Einwohnern, dann genügt ein Suizid, um an die Spitze der weltweiten Rangliste zu springen. 

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mare No. 155

mare No. 155Dezember 2022 / Januar 2023

Von Lisandru Laban-Giuliani und Olivier Laban-Mattei

Autor Lisandru Laban-Giuliani wurde 2001 in Ajaccio auf Korsika geboren. Er lebt in Paris, wo er sein Politikstudium abschließt. Sein Interesse an Grönland ergibt sich aus der Ähnlichkeit zwischen den Problemen, mit denen diese Insel und seine Heimat­insel konfrontiert sind.

Sein Vater, Olivier Laban-Mattei, Jahrgang 1977, lebt als ­freier ­Fotograf in Paris. Nach zehn Jahren bei Agence France-Presse widmet er sich seit 2010 Langzeit­projekten, wie etwa jenem über die Gesellschaft in Grönland mit Sohn Lisandru.

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Vita Autor Lisandru Laban-Giuliani wurde 2001 in Ajaccio auf Korsika geboren. Er lebt in Paris, wo er sein Politikstudium abschließt. Sein Interesse an Grönland ergibt sich aus der Ähnlichkeit zwischen den Problemen, mit denen diese Insel und seine Heimat­insel konfrontiert sind.

Sein Vater, Olivier Laban-Mattei, Jahrgang 1977, lebt als ­freier ­Fotograf in Paris. Nach zehn Jahren bei Agence France-Presse widmet er sich seit 2010 Langzeit­projekten, wie etwa jenem über die Gesellschaft in Grönland mit Sohn Lisandru.
Person Von Lisandru Laban-Giuliani und Olivier Laban-Mattei
Vita Autor Lisandru Laban-Giuliani wurde 2001 in Ajaccio auf Korsika geboren. Er lebt in Paris, wo er sein Politikstudium abschließt. Sein Interesse an Grönland ergibt sich aus der Ähnlichkeit zwischen den Problemen, mit denen diese Insel und seine Heimat­insel konfrontiert sind.

Sein Vater, Olivier Laban-Mattei, Jahrgang 1977, lebt als ­freier ­Fotograf in Paris. Nach zehn Jahren bei Agence France-Presse widmet er sich seit 2010 Langzeit­projekten, wie etwa jenem über die Gesellschaft in Grönland mit Sohn Lisandru.
Person Von Lisandru Laban-Giuliani und Olivier Laban-Mattei