Little Odessa

Einst Sommerfrische reicher New Yorker, dann Rummelplatz für kleine Leute, schließlich rettendes Ufer für Emigranten aus der einstigen Sowjetunion. Hier, an New Yorks Strand, schufen sie sich ihr eigenes Amerika

In dem Haus, in dem sich ihre Leben trennen werden, stehen Raissa und Sarah Veksler am Fenster und blicken aufs Meer, als suchten sie etwas. Einen Gedanken. Eine Antwort. Sie fanden hier zueinander, Raissa, die Großmutter, und Sarah, die Enkelin. Sie betrachten das Meer, wie es anspült in Amerika und am Land leckt, als wollte es bleiben. Sie werden hier loslassen, Raissa von ihrem Traum, Sarah von ihrem Land.

Sie hüllen sich in dunkle Mäntel und gehen hinaus auf die Promenade, den hölzernen Steg unten am Strand. Sie wollen das Meer hören, sie wollen es riechen. Es ist ein eisiger Tag, und Coney Island liegt unter einem Laken von Schnee. Raissa und Sarah gehen auf und ab zwischen der Stadt und dem Meer, den Himmelsrichtungen ihres Lebens. Sie sind zwei Generationen einer Familie, die in Amerika anspülte wie das Meer.

Die Enkelin und die Großmutter stehen an verschiedenen Enden ihres Lebens. Für Sarah ist es die Zeit der Anfänge, für Raissa die Zeit der Abschiede. In Coney Island begann die Geschichte der Vekslers in Amerika, in Coney Island wird sie enden.

Die Vekslers kamen, wie Tausende anderer Familien, in den siebziger Jahren aus der Sowjetunion in die kleine Nachbarschaft im Süden Brooklyns. Sie ließen ein Land zurück, in dem sie Fremde waren als Juden, und brachen auf in ein Land, das wie das Gegenteil der Sowjetunion auf der anderen Seite der Welt lag. Sie transplantierten ihr Leben von einem Meer an das andere, vom Schwarzen Meer an den Atlantik. New York lag wie ein Versprechen am Eingang Amerikas, und Coney Island war der Brückenkopf in die Stadt ihrer Träume.

Die Einwanderer kamen in Wellen, sie trieben in den geopolitischen Gezeiten, getragen und aufgehalten von kalten und anderen Kriegen. Die ersten erreichten Coney Island im Jahr 1973. Unter den Juden in der Sowjetunion hatte sich das Gerücht verbreitet, dass die Regierung einige von ihnen gehen lassen würde, wenn sie Familie in Israel haben. Sie litten nicht an Armut, viele von ihnen waren wohlhabend nach sowjetischen Maßstäben. Doch sie waren Juden im Land der Kommunisten, und der Antisemitismus verfolgte sie von Geburt an. In den Ausweisen der Sowjetmenschen stand geschrieben, aus welcher Region sie stammen. Die Juden bekamen ihren eigenen Stempel, sie passten nicht in die Geografie der Sowjetunion. Ihre Region war „jüdisch“.

Offiziell durfte niemand das sowjetische Paradies verlassen. Doch jüdische Organisationen in den Vereinigten Staaten und die amerikanische Regierung übten Druck auf die Staatsverwalter in Moskau aus, die Juden gehen zu lassen. Amerika hatte etwas anzubieten, das der Sowjetunion fehlte, und das Politbüro folgte seinem kapitalistischen Instinkt. Es erkannte den Wert der Juden als Handelsware. Es tauschte sie gegen Getreide. Brighton Beach, ein Viertel von Coney Island, war der Hintereingang zu New York, eine verkümmerte, verfallene Nachbarschaft am Rand der Stadt. Brighton Beach war schmutzig, und manchmal war es verbrecherisch. Doch es war ein Ort in Amerika, und es hatte nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal Juden aufgenommen, die auf der Suche waren nach einem neuen Leben. Es gab Reste jüdischen Lebens, ein paar Geschäfte, den Klang einer vertrauten Sprache, ein entferntes Gefühl von Heimat. Und es gab Reize, profane und sinnliche. Die Mieten waren niedrig und das Meer war nah. Für die Vekslers war es ein Ort der Sehnsucht.

Vielleicht war es kein Zufall, dass sie in einer Gegend landeten, die wie ein Fortsatz am Vergnügungspark der Insel hing, wie etwas Fremdes, das irgendwie dazugehört, aber nie angenommen wurde. Es war ein kleines, surreales Amerika, und manchmal war es den neuen Bewohnern von Brighton Beach so unheimlich wie das ganze Land. Die Trubelmeile lag an ihrer Promenade, war Teil ihrer Auslaufzone, aber keine Heimat. Sie bauten sich in Brighton Beach ihr eigenes Amerika auf, eine New Yorker Diaspora. Die Einwanderer kamen aus allen Teilen der Sowjetunion, von Russland bis zur Ukraine, von Weißrussland bis Moldawien. Doch die Ukrainer prägten das Gesicht des neuen Brighton Beach, die Namen der Restaurants, die Schaufenster der Geschäfte. Sie gaben Brighton Beach einen Namen, der klang, als sei die neue Heimat ein Satellit der alten. Sie nannten es „Little Odessa“. Raissa verlor hier ihren Traum, Sarah fand ihn. Die Geschichte der Großmutter und ihrer Enkelin ist die einer aufgegebenen und einer beginnenden Suche, eines langen Abschieds von „Little Odessa“. Raissa kam, als sie 33 Jahre alt war, mit einem Mann, zwei Kindern und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Der Mann und die Hoffnung starben, doch sie leben in Sarah weiter. Sarah wurde vor 14 Jahren in Brighton Beach geboren, sie ist das Gesicht der Verwandlung von „Little Odessa“. Der Ort, der für Raissa das Ziel war, ist für Sarah der Ausgangspunkt.

Die Geschichte der Vekslers in Amerika beginnt mit einer Nummer. Im Juli 1976, die Sowjetunion ist noch ein Monolith, fliegen Raissa und Arnold Veksler mit Aeroflot-Ticket 0448209 von Moskau nach New York. In der klassenlosen sowjetischen Gesellschaft gehören sie zu den etwas Höherklassigen, die Pianistin Raissa und der Violonist Arnold. Sie dürfen ein Stück von der Welt jenseits des Eisernen Vorhangs sehen. Sie dürfen die Hauptstadt des Kapitalismus besuchen. Nach ein paar Tagen spüren sie eine Sehnsucht und laufen mit einem verbotenen Gedanken durch die Stadt. Sie wollen bleiben.


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mare No. 70

No. 70Oktober / November 2008

Von Mario Kaiser und Antonina Gern

Mario Kaiser, Jahrgang 1970, ist Reporter in Berlin. Er kennt Coney Island gut, seit er zweimal für mehrere Jahre als freier Korrespondent in New York lebte.

Antonina Gern lebt und arbeitet als Fotografin in Hamburg. Die Idee, russische Familien in Brighton Beach zu porträtieren, kam ihr nach einem Kinobesuch. Der lyrische Dokumentarfilm Odessa, Odessa folgt einer Reise von der Ukraine nach Coney Island.

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Vita Mario Kaiser, Jahrgang 1970, ist Reporter in Berlin. Er kennt Coney Island gut, seit er zweimal für mehrere Jahre als freier Korrespondent in New York lebte.

Antonina Gern lebt und arbeitet als Fotografin in Hamburg. Die Idee, russische Familien in Brighton Beach zu porträtieren, kam ihr nach einem Kinobesuch. Der lyrische Dokumentarfilm Odessa, Odessa folgt einer Reise von der Ukraine nach Coney Island.
Person Von Mario Kaiser und Antonina Gern
Vita Mario Kaiser, Jahrgang 1970, ist Reporter in Berlin. Er kennt Coney Island gut, seit er zweimal für mehrere Jahre als freier Korrespondent in New York lebte.

Antonina Gern lebt und arbeitet als Fotografin in Hamburg. Die Idee, russische Familien in Brighton Beach zu porträtieren, kam ihr nach einem Kinobesuch. Der lyrische Dokumentarfilm Odessa, Odessa folgt einer Reise von der Ukraine nach Coney Island.
Person Von Mario Kaiser und Antonina Gern