Lissabonner Elegien

Der neue mare-Bildband „Lissabon“ zeigt die Atlantikstadt ohne Klischee und falsche Sentimentalität

Es gibt Städte, die erzeugen Bilder. Und es gibt städte, die erzeugen Gefühle. Lissabon gehört zweifellos zu der zweiten Kategorie. Die gelbe Tram in der Altstadt, das wogende Pflaster des Rossio, das versponnene Geschnür des Hieronymusklosters, das Licht und die Schatten, die salzig-feuchten Hafengassen – Fernando Pessoa, der große und oft für die Beschreibung Lissabons bemühte Dichter, malte seiner geliebten Stadt zwar zahllose literarische Bilder. Aber er fasste, im „Buch der Unruhe“, seine Betrachtungen zusammen mit der Feststellung: „Ich sehe noch immer, wie ich gesehen habe, aber hinter den Augen sehe ich mich sehen; das allein genügt, und die Sonne verschattet sich mir, das Grün der Bäume altert, und die Blumen welken, noch bevor sie erblühen.“ Und zog schließlich einen Strich darunter: „Mein Bewusstsein von dieser Stadt ist im Innersten mein Bewusstsein von mir selbst.“ Man kann wohl nichts Schöneres über seine Heimatstadt sagen; aber vor allem bringt der Satz auf den Punkt, was vielen Besuchern Lissabons, oft unaussprechlich, in Erinnerung bleibt.

Lissabon legt einem zarte Schleier von Gefühlen übers Herz, die etwas merkwürdig Grenzenloses haben und eine ruhige Ernsthaftigkeit hervorbringen, die in anderen mythischen Städten so nicht zu spüren ist. Saudade, der vielbesungene Versuch, das vage Gemenge der Lissabonner Empfindungen zu beschreiben, heißt keineswegs, dauernd depressiv zu sein oder auch nur melancholisch. Es ist vielmehr eine geistige Haltung, die man nach lebenslanger Übung erlangt, wenn Wehmut selbstverständlich ist und Betrübtheit nicht pathologisiert wird.

Die Wurzeln dieses einzigartigen Gemütszustands einer Stadt liegen tief – womöglich in den Katastrophen und Niederlagen und Demütigungen, die Lissabon in seiner langen Geschichte hinnehmen musste, aber wohl auch in der Mattheit, sich dem nicht zu widersetzen; in den tiefen Stürzen aus höchsten Höhen, hinein in eine Randständigkeit, die die Stadt und das ganze Land bis heute bescheiden macht und leiser als andere die Unbilden unserer Zeit ertragen lässt. Diese Duldsamkeit der Portugiesen gegenüber dem Schicksal, das ist wohl das Substrat der saudade.


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mare No. 101

No. 101Dezember 2013 / Januar 2014

Von Karl Spurzem und Jan Windzsus

Karl Spurzem, geboren 1959, ist stellvertretender mare-Chefredakteur. Als Student las er einmal im Lissabonner „Café A Brasileira“ Pessoas Buch der Unruhe in einem Stück. Seither ist er der Stadt erlegen.

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Vita Karl Spurzem, geboren 1959, ist stellvertretender mare-Chefredakteur. Als Student las er einmal im Lissabonner „Café A Brasileira“ Pessoas Buch der Unruhe in einem Stück. Seither ist er der Stadt erlegen.
Person Von Karl Spurzem und Jan Windzsus
Vita Karl Spurzem, geboren 1959, ist stellvertretender mare-Chefredakteur. Als Student las er einmal im Lissabonner „Café A Brasileira“ Pessoas Buch der Unruhe in einem Stück. Seither ist er der Stadt erlegen.
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