Liberté Toujours

Tanger, Marokkos Hafen zwischen Mittelmeer und Atlantik, schwingt sich auf zum internationalen Wirtschaftszentrum

„Aber fast alles in Tanger ist ungewöhnlich, und ehe man hierherfährt, sollte man drei Dinge tun: sich gegen Typhus impfen lassen, seine Ersparnisse von der Bank abheben und sich von seinen Freunden verabschieden – denn der Himmel allein mag wissen, ob man sie jemals wiedersehen wird.“ Truman Capote, 1956

Vor hundert Jahren war Tanger eine der außergewöhnlichsten Städte der Welt. Die Weiße Stadt an der Nordwestspitze Afrikas wurde besungen, beschrieben, beschworen.

Alle kamen, viele blieben, manche kehrten wieder – berühmte und weniger berühmte Schriftsteller, Musiker, Maler, Modeschöpfer, Unternehmer, Spinner, Spione, Tagelöhner, Zuhälter, Transsexuelle, Abenteurer, Hippies, Goldhändler, Philosophen und Pechvögel. In der Medina, der Altstadt, gab es Hunderte Banken und Wechselstuben, es gab so viele Muslime wie Juden und Christen und an­nähernd so viele Synagogen und Kirchen wie Moscheen. Man lebte, ließ leben und einander gewähren.

Vor 50 Jahren war Tanger ­gefallen, gesunken, gemieden. Depression, Schmutz, Verfall, die dunkle Seite des eins­tigen Glücks. Die Welt wandte sich New York, Paris und London zu, im Königreich Marokko drehte sich alles um Casa­blanca und Rabat. Auf Tanger lag der Schatten der Verkommen- und Vergessenheit.

Vor 20 Jahren wurde die verschattete Stadt künstlich belichtet und begann zu blühen. Abermillionen Dollar flossen nach Tanger, Boulevards und eine neue Promenade wurden gebaut. Die Welt kam zurück: Europäische, amerikanische, japanische und chinesische Unternehmen siedelten sich an. Das saudische Königshaus investierte und baute Residenzen, arabische Prinzen zogen an den Strand, der größte aller 37 Häfen Afrikas entstand. Heute werden hier täglich Tausende Autos, Flugzeugkomponenten und Windräder produziert. Tanger war erwählt.

In fünf Jahren wird Tanger die führende Stadt Afrikas sein. An ihrem nordwestlichen Rand wird dann eine neu gebaute Tech City, die Plattform für Automobilität, Aeronautik, E-Commerce und Global­logistik, fertig sein, weitere Freihandelszonen werden folgen, der bereits existierende „Technopark“ im Stadtzentrum wird nicht nur wie heute 50, sondern womöglich 100 Start-ups der E- und Green-Technology beherbergen, und die beiden Häfen Tanger-Med 1 und 2 werden mit über neun Millionen Containern Kapazität die größte Hafenlogistik im gesamten Mittelmeerraum stellen. Wenn nicht alles täuscht, könnte das strategisch so unerhört privilegiert gelegene Tanger in mittelferner Zukunft zu einem der geostrategischen Zentren einer sich gerade neu ordnenden Welt werden.

Wie konnte all das geschehen? Weder bietet Tanger überwältigende Architektur und Ruinen auf, noch inszeniert es sich mit Palazzopreziosen, Galeriegigantismus oder Architekturikonen. Weder hat Tanger besonderen Liebreiz noch exquisiten Charme. Die Weiße Stadt an den beiden Meeren will nichts, sie fordert nichts, sie mahnt zu nichts, aber irgendein mysteriöser Geist, der sich einer klaren Bezeichnung verweigert, umfängt den Besucher sofort. Auf den Plätzen, in den Gassen und Straßen herrscht eine außergewöhnliche Gewöhnlichkeit, und auf eine seltsam uninteressierte, nahezu ignorante Art ist Tanger eine Menschenfängerstadt. Warum? Weil es Tanger ist.

Tanger, heißt es in Gesprächen oft, spreche für sich. Tanger sei Tanger. Tanger sei einzigartig. Und irgendwann wird klar: Das Wesen dieser Stadt muss Freiheit sein – Liberté und Laisser-faire, von der Inter- zur Freihandelszone, von oben bis unten, auch wenn die Spitzel des Staats in den Cafés sitzen, um Revolutionen zu verhindern.

Der Zigarettenhändler beginnt sein Tagwerk früh am Morgen. Von niemandem gestört, geht er geschätzt alle fünf Minuten am „Gran Café de Paris“ vorbei, dem Scharnier des alt- zum neustädtischen Tanger an der Place de France, ein klein gewachsener Mann um die 50, mit Schnauzbart, strengem Blick, Hemd und roter Jacke. An den Tischen des „Café de Paris“ gegenüber dem französischen Konsulat – seit 1927 Treffpunkt der Geschäftsleute, Intellektuellen und Künstler – sitzen zu jeder Tageszeit Männer und Touris­tinnen vor ihren Gläsern Minztee und beobachten die Verdichtung im Kreisverkehr: trillerpfeifende Polizisten, mintfarbene Dacia-Taxis, fens­terverdunkelte SUVs, anarchische Roller und ab und an dazwischen ein Eselskarren. Fliegende Händler bieten Socken, Papiertaschentuchpakete, Mäntel, Melonen und Mandelkuchen auf Schubkarren an, Ladys mit Lederstiefel und Ray-Ban-Brille passieren, gefolgt von verschleierten Schwarzafrikanerinnen und Teenagern mit locker geschlungenem Kopftuch.

Ist der Zigarettenhändler für Minuten in die Rue de la Liberté entschwunden, kommen, als wären jetzt sie an der Reihe, wieder dieselben Obdach­losen am Café vorbei und kramen aus dem ­einzigen öffentlichen Mülleimer Dosen und Flaschen, um letzte Reste Flüssigkeit zu schlürfen. Ein stark verwilderter, mit Decken behängter Mann studiert die Laufwege der Kellner, ehe er auf einem der gerade frei gewordenen Tische das halb geleerte Glas Wasser greift, in einem Schluck leert und hastig zurückstellt. Die sonst höchst aufmerksamen Kellner tun unbeteiligt, warten bewusst ein paar Sekunden länger, räumen ab und wischen über die Tischplatte, ehe der nächste Gast kommt und das nächste Glas Wasser auf dem Tisch steht und der nächste Obdachlose danach greift.

Die vierspurige, parallel zur Mittelmeerküste verlaufende Avenue Mohammed VI ist das Sinnbild der wiedererwachten, geradezu erweckten, aufpolierten Stadt. Neben der Fahrbahn weisen an Sperrzäune gehängte Plakate die geplante Tanja Marina Bay als neues Luxusquartier aus. Gebäude gibt es noch keine, aber Computersimulationen; mächtige Bagger tragen von Wildblumen und Unkraut bewucherte Erde ab. Die Idee des neuen Tanger ist lanciert, die Stadtentwicklungsvision eines globalisierten Waterfront-Designs stammt aus Abu Dhabi.

Im Geist urbanistischer Kosmetik wurde nun, auf vorher verwildertem Brachland, der ehrwürdige Royal Yacht Club de Tanger, 1925 der erste Yachtclub auf dem Kontinent Afrika, neu konzipiert: mit einem ins Meer ragenden Steg samt Parkgarage, Spitzenklassenkulinarik und DJ-Entertainment. Für die keineswegs orientalische und von vielen Tangerern als steril kritisierte Konzeption wurde der benachbarte alte Fischerhafen und mit ihm ein großes Maß an Identität abgerissen. Die alten Holzboote trugen die Namen der Seemänner von Tanger, und die alten Buden mit den offenbar legendären Calamar- und Crevettenplatten waren vor allem ein sozialer Ort.

Der neue Fischerhafen wurde einige hundert Meter weiter östlich verlegt und vor Kurzem eröffnet. Im weiß gehaltenen Betonquaderreservat, hinter dem die Formenlehre des Bauhauses stecken könnte, wirken die bunt gestrichenen Fischerboote und Trawler wie antiquierte Fremdkörper. Global Lifestyle zu Lasten der ­Tradition kann man, je nach Standpunkt, kulturzerstörend oder vorausschauend nennen – wie immer man es auch sehen mag: Die generalstabsmäßige Transformation Tangers in die neue Ära geht auf die Vision eines Mannes zurück.

Natürlich ist der marokkanische König unantastbar, und man wird kaum jemanden finden, der sich nicht begeistert über ihn und seine Ideen äußert: Mohammed VI., gern M6 genannt, Jahrgang 1963, Namensgeber der Küstenavenue, Vaterfigur, Volksheld, Heilsbringer. Um die Jahrtausendwende soll der damals so neue wie junge Monarch gesagt haben, er sehe vor lauter Häusern sein Meer nicht. Wenig später wurden die alten Hochhäuser der ersten Reihe mit Hotels, Kaschemmen, Discos, Clubs, Bars und Restaurants auf die Hälfte erniedrigt, andere Gebäude ganz abrasiert.

Die neue Uferpromenade mutet wie die in die Realität versetzte Animation eines globalisierten Architekturbüros an, anstelle der Palmen stehen nun, in geordnetem Abstand, dünnstielige, wie Tentakel aussehende Laternenpfähle. Mit den Palmen verschwanden Tausende Prostituierte und vor allem Leichtsinn und Leichtigkeit, die sinnesfrohe Ausgelassenheit eines exzessiven und beliebten Nachtlebens, so lauten die Klagen alter Tangerer. In den Gebäuden auf der anderen Seite der unablässig befahrenen Avenue herrscht reichlich Leerstand, sind tote Shops und kaum besuchte Imbissbuden tragische Realität.

M6 hatte entschieden, mit der Politik seines 1999 gestorbenen Vaters Hassan II. zu brechen, wandte den Blick von Casa­blanca und Rabat ab und nach Norden und erkor das damals verlorene Tanger zum Zentrum des ökonomischen und sozialen Aufschwungs seines Landes, das nach dem Niedergang Libyens die führende Wirtschaftsnation Afrikas zu werden anstrebt. Mit Geld aus dem saudischen Königshaus, den arabischen Emiraten und China baute der Staat Straßen, Spielplätze, Brücken und einen neuen Bahnhof für Afrikas ersten Hochgeschwindigkeitszug TGV von Tanger nach Rabat. In den vergangenen zehn Jahren sind klimagekühlte Malls entstanden, stadtauswärts reihen sich neu gebaute Apartmentkomplexe. Seit M6 die royalen Geschäfte führt und Tanger als Tor Afrikas zur Welt und als Portal der Welt nach Afrika ausbaut, ist die sich über sieben Hügel ziehende einst kleine Stadt zur Metropole mit mehr oder weniger einer Million Einwohnern gewachsen. Vor 20 Jahren, hört man, habe es in der Stadt keinen Bürgersteig gegeben, heute gibt es überall gefegte Trottoirs und auf der Promenade, auf der kaum einer promeniert, alle 30 Meter eine schöne Sitzbank.

Bei klarer Luft sieht man jetzt die Wohnzimmerfenster im andalusischen Tarifa gegenüber, bei gutem Licht ist Eu­ro­pa zum Greifen nah. Aber nicht mehr Briten und Franzosen, sondern Araber und Chinesen kommen nach Tanger. Und an der Antwort auf die Frage, wer wann woher nach Tanger kommt, ließ sich schon immer die Grammatik der Welt, der Werte- und Bedeutungsverlagerung ablesen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 146. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 146

mare No. 146Juni / Juli 2021

Von Christian Schüle und Juan Manuel Castro Prieto

Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und ist literarischer Autor und Essayist. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Tanger hat er mehrere Mal besucht und war immer aufs Neue fasziniert von der Lage an zwei Meeren, dem besonderen Licht und einem Versprechen auf Freiheit und Freizügigkeit, das nirgends geschrieben steht, aber überall zu spüren ist.

Juan Manuel Castro Prieto, geboren 1958, Fotograf in Madrid, wird durch die Agence VU vertreten. Seine Arbeiten wurden in den USA, Peru, Frankreich, Italien, Japan, Mexiko und Spanien ausgestellt. Er hat in vielen Zeitungen und Magazinen veröffentlicht, wie in „Le Monde“, „National Geographic“, „El País“ und „Newsweek“. Auf seiner Reise nach Marokko für mare entdeckte er ein modernes Tanger, das jedoch in der Vergangenheit tief verwurzelt ist, ein Ort des ­Transits und der Toleranz. Er fühlte sich in Tanger zu Hause.

Mehr Informationen
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und ist literarischer Autor und Essayist. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Tanger hat er mehrere Mal besucht und war immer aufs Neue fasziniert von der Lage an zwei Meeren, dem besonderen Licht und einem Versprechen auf Freiheit und Freizügigkeit, das nirgends geschrieben steht, aber überall zu spüren ist.

Juan Manuel Castro Prieto, geboren 1958, Fotograf in Madrid, wird durch die Agence VU vertreten. Seine Arbeiten wurden in den USA, Peru, Frankreich, Italien, Japan, Mexiko und Spanien ausgestellt. Er hat in vielen Zeitungen und Magazinen veröffentlicht, wie in „Le Monde“, „National Geographic“, „El País“ und „Newsweek“. Auf seiner Reise nach Marokko für mare entdeckte er ein modernes Tanger, das jedoch in der Vergangenheit tief verwurzelt ist, ein Ort des ­Transits und der Toleranz. Er fühlte sich in Tanger zu Hause.
Person Von Christian Schüle und Juan Manuel Castro Prieto
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und ist literarischer Autor und Essayist. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Tanger hat er mehrere Mal besucht und war immer aufs Neue fasziniert von der Lage an zwei Meeren, dem besonderen Licht und einem Versprechen auf Freiheit und Freizügigkeit, das nirgends geschrieben steht, aber überall zu spüren ist.

Juan Manuel Castro Prieto, geboren 1958, Fotograf in Madrid, wird durch die Agence VU vertreten. Seine Arbeiten wurden in den USA, Peru, Frankreich, Italien, Japan, Mexiko und Spanien ausgestellt. Er hat in vielen Zeitungen und Magazinen veröffentlicht, wie in „Le Monde“, „National Geographic“, „El País“ und „Newsweek“. Auf seiner Reise nach Marokko für mare entdeckte er ein modernes Tanger, das jedoch in der Vergangenheit tief verwurzelt ist, ein Ort des ­Transits und der Toleranz. Er fühlte sich in Tanger zu Hause.
Person Von Christian Schüle und Juan Manuel Castro Prieto