Le Pont Transbordeur

Die Schwebebrücke über den Alten Hafen von Marseille war der Stolz der Mittelmeermetropole. Ihr kühner Entwurf aus Stahl zog nicht nur Reisende und Schaulustige an, sondern auch die Avantgarde der Fotografen

Der Pont Transbordeur war vom Wesen her fotografisch. Er erzeugte Bilder. Von Seeleuten, die fast ein halbes Jahrhundert lang unter ihm hindurch hinaus und wieder hinein in den Alten Hafen fuhren; von Daheimgebliebenen, die Heimkehrer auf der Schwebebrücke mit Taschentüchern winkend begrüßten;von den atemlos Staunenden auf seiner Plattform in schwindelnder Höhe; von dem Ausblick, der bis Afrika zu reichen schien. Marseille hatte seinen Eiffelturm. Ein ebenbürtiges Wahrzeichen – und ein besonders volkstümliches. Denn es erfüllte anders als der große Pariser Cousin auch noch einen Zweck.

1905 war die platzsparende Brücke von dem französischen Architekten Ferdinand Arnodin nach den Vorbildern seiner Kabelschwebebrücken im baskischen Portugalete bei Bilbao, in Rouen, im tunesischen Bizerta und in Rochefort errichtet worden.

Seither ist der Pont Transbordeur fest vertäut im Hafen der Erinnerung der Marseiller, und auch wenn man wegen hohen Unterhalts zu seinen Zeiten Petitionen unterschrieb, ihn zu entfernen, blieb er nach seinem Untergang im kollektiven Gedächtnis die Sphinx von Massilia, Wächter seiner uralten Tempel und Plätze, Triumphzeichen der Stadt, deren Blick sich durch den Rahmen des Pont Transbordeur hindurch öffnete zum Château d’If und den Frioul-Inseln hinaus auf das mythischste der Meere.

Peter Panter alias Kurt Tucholsky beschrieb ihn in der Berliner „Vossischen Zeitung“ den Deutschen: „Und vorn, grade da, wo die letzten Fortifikationen das Becken vom offenen Meer trennen, erhebt sich der riesige Pont transbordeur, die Überladebrücke. Das ist ein feines Geflecht aus vielen Eisen- und Stahlstreifen, das man im Jahre 1905 erbaut hat: sie ist 52 Meter hoch [an der Traverse; über alles ist sie 86 Meter hoch und 210 Meter breit, d. Autor], und oben gleitet eine große Schiene hin und her, an der durch zahlreiche Stahltrossen eine Fähre aufgehängt ist. Die Fähre schwebt über dem Wasser, so dass Ruderboote noch unter ihr passieren können, sie nimmt Wagen und Menschen auf, die von einem Ufer zum andern herüberwollen. Ein Fahrstuhl führt hinauf. Oben gibt es einen überwältigenden Rundblick.“

Der Transbordeur war lange das liebste Motiv der aus dem Hafen verschickten Postkarten. Aber dann, zwei Jahrzehnte nach seinem Bau, kamen eine Handvoll Kunstfotografen und machten ihn zu ihrem Studienobjekt. Es waren Fotografen, wohlgemerkt, nicht Maler. Letztere erforschten das Licht, die Farbe. Aber diese Streben und Seile, das geometrische Gefüge der Linien, die offene Konstruktion, die Grafik des Objekts – der Transbordeur schien wie geschaffen für die Fotografie. Seinetwegen reiste die Avantgarde der jungen Kunst nach Marseille, Moholy-Nagy und Man Ray, Germaine Krull und Florence Henri. Und sie erhoben die Schwebebrücke zu einer Ikone der Kunstgeschichte.

Halb zum Vergnügen, halb zum Arbeiten unternahmen 1925 zwei Freunde eine sommerliche Frankreichreise. Der eine Siegfried Giedion, ein Schweizer Kunst- und Architekturhistoriker, der in Zürich lehrte, der andere László Moholy-Nagy, ein ungarischer Maler, Designer und Fotograf, der zwei Jahre zuvor an der Weimarer Kunstschule Bauhaus zum Leiter der Metallklasse und des Vorkurses ernannt worden war und mit seinem Buch „Malerei Fotografie Film“ gerade die Lehre vom Neuen Sehen verfasst hatte. Giedion beschäftigte sich seit einiger Zeit mit dem neuen französischen Ingenieurbau und plante ein Buch dazu; Moholy-Nagy gewann er als Gestalter und Berater. Giedions gewichtiges Buch erschien 1928, sein schwerer Titel hieß „Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton“, und der Einband trug eine Fotografie des Marseiller Pont Transbordeur aus Giedions Kamera: ein Negativabzug, Weiß auf Schwarz, eine junge Technik, die er wohl bei seinem Freund gelernt hatte.

Einen Vorabdruck des Buchtexts publizierte er in der Leipziger Kunstzeitschrift „Der Cicerone“, und es war eine Hymne auf den Transbordeur. Im ersten Kapitel fragte er „Ist Konstruktion überhaupt etwas Äußeres?“ und zeigte eine Totale der Brücke mit den Worten: „Ihre Interaktion mit der Stadt ist weder ,räumlich‘ noch ,plastisch‘. Es entstehen schwebende Beziehungen und räumliche Durchdringungen. Die Grenzen der Architektur lösen sich auf.“

Sein Enthusiasmus für die Konstruktion war zwar modern, aber nicht revolutionär. Die Forderung nach der Verschmelzung von Kunst und Technik war schon das Programm der Avantgarde in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Seit der Jahrhundertwende regte sich in der bürgerlichen Gesellschaft der Wunsch, die technische Wirklichkeit – Maschinen, Bewegung, Verkehr – mit dem Alltag zu vereinen. Dies war nicht mehr die Stimmung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Menschen in Scharen zu den Weltausstellungen trieb, die Poesie der Glaspaläste zu bestaunen, oder die Claude Monet die zarten Augenblicksbilder vom Pariser Bahnhof Saint-Lazare malen ließ – das neue Industriebürgertum interessierte am technischen Objekt nicht mehr das Organische, sondern vielmehr das Konstruktive.


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mare No. 61

No. 61April / Mai 2007

Von Karl J. Spurzem

Karl J. Spurzem, geboren 1959, ist Chef vom Dienst bei mare. Sein Interesse für Schwebebrücken hat ihn zu den schönsten Exemplaren in Europa gezogen. Sein Favorit: der Puente de Vizcaya bei Bilbao.

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Vita Karl J. Spurzem, geboren 1959, ist Chef vom Dienst bei mare. Sein Interesse für Schwebebrücken hat ihn zu den schönsten Exemplaren in Europa gezogen. Sein Favorit: der Puente de Vizcaya bei Bilbao.
Person Von Karl J. Spurzem
Vita Karl J. Spurzem, geboren 1959, ist Chef vom Dienst bei mare. Sein Interesse für Schwebebrücken hat ihn zu den schönsten Exemplaren in Europa gezogen. Sein Favorit: der Puente de Vizcaya bei Bilbao.
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