Le Grazie

Eine Halbinsel an der Riviera ist die Heimat einer stolzen Truppe von Elitetauchern der italienischen Kriegsmarine

Klammes Wetter, ein klammer Ort, wo man an freundlicheren Tagen die Sonne über dem Meer aufgehen sieht, obwohl das Meer doch eigentlich im Westen liegt. Der Ort heißt Le Grazie und liegt in der Bucht von La Spezia, die wegen ihrer geschützten Lage zum zweitwichtigsten Marinestützpunkt Italiens wurde. Gleich hinter Le Grazie beginnen die Cinque Terre, beginnt touristisches Sehnsuchtsland, dort, wo die Sonne im Meer versinkt. Auch Le Grazie schmiegt sich um eine Bucht, eine kleine in der großen, ist doppelt geschützt. Der Hafen ist nicht pittoresk. Zwar liegen da ein paar historische Segler von vermögenden Engländern, einer hat sogar Elton John gehört, ansonsten nur Fischerboote. Störend ist vor allem die Werft, wo dauernd gesägt und gebohrt wird, ein Lärm, der den Einwohnern auf die Nerven geht, weil keiner von ihnen dort arbeitet und die Werft einem Fremden aus Carrara gehört und einer touristischen Nutzung des Hafens im Weg steht.

Das Dorf wurde 2007 zur „Città dei palombari“, zur „Stadt der Helmtaucher“, gekürt, und das mit gutem Grund. Bis vor wenigen Jahrzehnten hing an jedem Balkon einer dieser monströs großen braunen Tauchanzüge zum Trocknen. Jeder im Dorf hat ein Familienmitglied, das fürs Militär tauchte, das geht schon seit Generationen so. Der Krieg spielte stets eine Hauptrolle hier. Oder auch: das Aufräumen nach dem Krieg. Abertausende Bomben und Minen aus beiden Weltkriegen mussten und müssen noch aus den Tiefen der Meere hochgeholt werden, nicht nur im Mittelmeer, die Taucher werden rund um den Globus geschickt. Und damit der Krieg nie in Vergessenheit gerät, thront auf zwei Landzungen mächtig die Spezialeinheit der Marine samt Militärakademie: „Il Varignano“, benannt nach dem Fort aus dem frühen 18. Jahrhundert. Die Einheit heißt eigentlich COMSUBIN, „Kommando Unterwasser und Angriff ‚Teseo Tesei‘“ (nach jenem Offizier, der den bemannten Torpedo erfunden hat, „il maiale“, „das Schwein“, der im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz kam). Doch alle sagen nur: der Varignano.

Alle, das sind die Einwohner von Le Grazie, die Militärs und nicht zuletzt die Pensionäre, um die es hier gehen soll. Männer, die ihr Leben der Kampfmittelbeseitigung und der Rettung aus großer Tiefe verschrieben hatten. Männer, die immer dann gerufen werden, wenn ein Flugzeug ins Meer stürzt, ein Schiff versinkt, Bomben entdeckt werden. Männer, die weniger als Einzelne zu betrachten sind, sondern als Glieder eines gewaltigen Körpers, denn das ist es, was ihnen wichtig ist: Teil eines großen Ganzen zu sein, einer Institution, einer (oftmals ge- heimen) Mission und eines Erlebens, das über das individuelle hinausgeht. Der materialisierte Ausdruck dieses ideellen Körpers ist der Varignano.

Der älteste der Pensionäre ist 93 und nahm am Zweiten Weltkrieg teil, der jüngste 60, er berät heute Ingenieure, die Dekompressionskammern bauen. Sie und zwei Dutzend andere Männer sind Mitglieder des Ehemaligenvereins der Helmtaucher, ihr Vereinszimmer liegt dem Hafen gegenüber am Lungomare, das Herz des Körpers gewissermaßen. An den Wänden Fotografien in Schwarz-Weiß, mitten im Raum einer der ersten Taucherhelme, 1905 von der legendären Firma Galeazzi gebaut und 18 Kilogramm schwer. In den Varignano gehen die Männer kaum noch, aber die im Varignano kennen die Geschichten über die Taten der alten Männer natürlich, die oft Heldentaten waren, auch wenn das Interesse an den frühen Jahren des Helmtauchens abnimmt und die Anekdoten nahezu archaisch anmuten, wie wenn man jungen Leuten die Welt zu Zeiten ohne Internet zu erklären versucht. Die Technik hat sich verfeinert, ist aber im Grunde die gleiche geblieben: Der Taucher trägt über warmen Unterkleidern (früher von den Frauen Le Grazies gestrickt) einen wasserdichten Anzug aus festem Gewebe mit Gummibeschichtung, der groß genug sein muss, dass man sich darin selber umarmen kann, einen mit dem Anzug verbundenen Kugelhelm mit mehreren Sichtöffnungen, gleichmäßig verteilte Gewichte, Blei- oder Zementschuhe, eine Luftversorgung per Oberflächenverbindung und ein Ablassventil für die verbrauchte Atemluft. Die Ausrüstung wiegt bis zu 100 Kilogramm, schwimmen kann der Taucher damit nicht, er schreitet über den Meeresboden. Die Kunst ist es, den Druckausgleich ohne Nasenklemme zu schaffen und die Luftmenge im Anzug so unter Kontrolle zu halten, dass man nicht zu schnell auftaucht, was schlimmstenfalls zum Tod führen kann. Keinesfalls darf der Luftschlauch reißen, sonst fällt der Druck im Anzug ab und der Körper des Tauchers wird in den druckstabilen Helm gepresst und zermatscht, ein Rückschlagventil am Helm soll das verhindern. Früher arbeitete man mit bloßen Händen, die gegen die Kälte eingefettet waren. Das Tauchen in großer Tiefe ist eine kalte Angelegenheit.

Auch im Vereinslokal ist es klamm, man sitzt in Winterjacken da, doch keiner jammert, sie sind Härteres gewohnt. Es ist ein Kommen und Gehen, durch den Raum schwirren Sätze wie: „Das Militär fängt nie den Krieg an, es führt ihn nur aus.“ … „Um den Frieden zu halten, muss man sich auf den Krieg vorbereiten.“ … „Je weniger die Amerikaner rausgehen, desto besser. Sie verstehen die anderen Völker nicht.“ … „Regierungen wechseln. Hauptsache, der Staat ist stark.“ … „Natürlich bin ich rechts. Wer sein Land liebt, ist rechts.“ … „Es gibt keine Linken im Varignano. Nicht einen.“ … „Der Kommunismus war eine schöne Idee.“ … „Die Marine ist die Elite. Und die ‚subaquei‘ sind die Elite der Elite.“ … „Nur 200 können das.“ … „Taucher kennen kaum Hierarchien. Jeder ist auf den anderen angewiesen.“ … „Wenn mir unter Wasser langweilig war, habe ich Mickymaus gelesen.“ … „Mein Vater hatte ein Lungenvolumen von sieben Litern, nicht nur von vier.“ … „Ja, ja, dein Vater, der Held.“


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mare No. 138

mare No. 138Februar / März 2020

Von Zora del Buono und Gianmarco Maraviglia

mare-Redakteurin Zora del Buono, Jahrgang 1962, kennt die Geschichten der Bomben vor Bari von privater Seite: Ihr Großvater war 1952 behandelnder Arzt der verletzten Seeleute.

Der Mailänder Fotograf Gianmarco Maraviglia, geboren 1974, fokussiert auf soziale Themen rund um die Welt.

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Vita mare-Redakteurin Zora del Buono, Jahrgang 1962, kennt die Geschichten der Bomben vor Bari von privater Seite: Ihr Großvater war 1952 behandelnder Arzt der verletzten Seeleute.

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