Landschaft hinter der Landschaft

Der Mythos der Toteninsel und ihre Kulturgeschichte haben ihren Ursprung im Bewusstsein der Tiefendimension eines Ortes

Inseln sind von jeher ein Faszinosum, das vieles  andere in den Schatten stellt. Homers Odyssee beginnt damit, dass Odysseus’ Sohn Telemachos sich auf eine Reise nach Sparta begibt. Dort will er Menelaos aufsuchen, um dessen Gattin Helena der Trojanische Krieg geführt worden war, und ihn nach Nachrichten von seinem verschollenen Vater befragen. Dieser Beginn des Epos ist im heutigen Bewusstsein jedoch weit in den Hintergrund getreten – und zwar zugunsten einer Inselerzählung. Wenn man den Titel Odyssee heute hört, dann denkt man zunächst an die Irrfahrten, auf denen Odysseus zwischen wundersamen Inseln hin und her getrieben wurde. In der heutigen Wahrnehmung der Odysseus-Sage stehen so die Inselreisen ganz im Vordergrund.

Diese Strahlkraft der Odyssee-Inseln ist kein neues Phänomen. Schon in der Antike übten sie eine Anziehung aus, der  man sich nicht entziehen konnte. Dies ging so weit, dass diese Inseln sogar immer wieder in der realen Welt aufgefunden wurden. So identifizierten etwa die römischen Geografen Pomponius Mela und Solinus die Insel der Zauberin Kirke, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelte, mit Terracina an der Küste von Latium. Und die Insel der Nymphe Kalypso, die Odysseus viele Jahre gefangen gehalten haben soll, setzte Plinius mit einer Insel vor der Küste Kalabriens gleich. Wer an der kala­brischen Küste entlangsegelte, der reiste so durch eine Mythen­landschaft, die die Reisen des Odysseus unmittelbar erfahrbar machte.

Die wirkmächtigsten unter den vielen mythischen Inseln der Odyssee waren allerdings die Inseln der Seligen. In der Odyssee, die vielleicht um 700 vor Christus verfasst wurde, sind sie ein para­diesisches Gefilde im Westen jenseits des Ozeans, der die Welt umgibt; dorthin, so wird im Epos prophezeit, werde Menelaos zusammen mit seiner Frau Helena entrückt werden, anstatt das Schicksal gewöhnlicher Sterblicher zu erleiden und zu sterben. Hesiod beschreibt sie etwas später als den Ort, der all den Heroen versprochen ist, die im Trojanischen Krieg kämpften und ihn überlebten. In dieser ihrer frühesten Form, wie sie bei Homer und Hesiod fassbar wird, sind die Inseln der Seligen somit kein Jenseits, sondern ein fernes Land der Unsterblichkeit, wo die Seligen in einem Paradiesgarten jenseits des Meeres ein ewig währendes Leben genießen.

Einige Generationen nach Homer und Hesiod, im Werk des großen griechischen Lyrikers Pindar im fünften Jahrhundert vor Christus, hat sich dieses Bild jedoch grundlegend gewandelt. Bei Pindar sind die Inseln der Seligen nicht mehr Inseln der Unsterblichkeit, sondern nun sind sie Inseln der seligen Toten, auf denen die Verstorbenen für ein tugendhaftes Leben belohnt werden.

Aber gerade jetzt zeigte sich, wie charismatisch diese Inseln des Mythos waren. Denn obwohl die Seligeninseln zu Toteninseln wurden, verschwanden sie nicht aus der Welt der Menschen. Ganz im Gegenteil: Eine ganze Reihe von Inseln in Mittelmeer, Schwarzem Meer und Atlantischem Ozean wurde nun mit ihnen gleichgesetzt. So galt in der Antike die kleine Felseninsel Leuke, im Schwarzen Meer vor der Mündung der Donau gelegen und heute Schlangeninsel genannt, als Insel der Seligen, und verschiedene antike Erzählungen berichten davon, wie Achilles zusammen mit Helena und anderen Helden des Trojanischen Krieges hier ein glückliches Leben nach dem Tod genoss. In der Adria, vor der Spitze der Halbinsel Gargano in Süditalien, waren die  Isole Tremiti mit ganz ähnlichen Mythen assoziiert; nur waren diese Inseln mit einem anderen der Helden des Trojanischen Krieges verbunden, mit Diomedes. Selbst eine Insel so groß und bekannt wie Kreta konnte mit den Inseln der Seligen gleichgesetzt werden. Plinius erwähnt in seiner Naturgeschichte, dass Kreta im Griechischen so genannt werden konnte.


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mare No. 118

No. 118Oktober / November 2016

Von Matthias Egeler

Matthias Egeler, Jahrgang 1980, studierte Religionswissenschaft, Nordische Philologie und Keltologie und ist Privatdozent am Institut für Nordische Philologie der Universität München. Er schrieb mehrere Bücher zur europäi­schen Religionsgeschichte, zuletzt eine Monografie zu den Unsterblichkeits- und Toten­inseln des europäischen Mythos, die durch ein Marie-Curie-Fellowship des Europäischen Forschungsrats gefördert wurde.

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Vita Matthias Egeler, Jahrgang 1980, studierte Religionswissenschaft, Nordische Philologie und Keltologie und ist Privatdozent am Institut für Nordische Philologie der Universität München. Er schrieb mehrere Bücher zur europäi­schen Religionsgeschichte, zuletzt eine Monografie zu den Unsterblichkeits- und Toten­inseln des europäischen Mythos, die durch ein Marie-Curie-Fellowship des Europäischen Forschungsrats gefördert wurde.
Person Von Matthias Egeler
Vita Matthias Egeler, Jahrgang 1980, studierte Religionswissenschaft, Nordische Philologie und Keltologie und ist Privatdozent am Institut für Nordische Philologie der Universität München. Er schrieb mehrere Bücher zur europäi­schen Religionsgeschichte, zuletzt eine Monografie zu den Unsterblichkeits- und Toten­inseln des europäischen Mythos, die durch ein Marie-Curie-Fellowship des Europäischen Forschungsrats gefördert wurde.
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