La dame d’océan

Die Fotografin Anita Conti verbrachte ihr ganzes Leben auf Fischkuttern. Die Biografie einer Draufgängerin

Die Körper gehorchen nur noch diesem stummen kollektiven Willen, gemeinsam ein Ziel zu erreichen: lebende Materie zu erobern, sie zu töten und sie im Laderaum zu stapeln wie eine Kriegsbeute“, schrieb Anita Conti an Bord des Kabeljaufängers „Vikings“. Was wie eine harsche Kritik klingt, ist in Wirklichkeit eine Hommage an jene Männer, mit denen sich die Französin ihr Leben lang intensiv beschäftigte und mit denen sie immer wieder monatelang zur See fuhr.

Keine andere Frau und kaum ein Mann wusste so genau über das Leben an Bord eines Fischerboots Bescheid wie die 1899 geborene Ozeanografin, Fotografin und Schriftstellerin.

Anita Conti war eine Draufgängerin. „Eines habe ich schnell begriffen: Man darf die Matrosen nicht ärgern. Ich habe mich also daran gewöhnt, nie Hunger oder Durst zu haben, nie zu schwitzen oder zu frieren, nie seekrank zu werden und mich nie waschen zu wollen. Ich schlage mich eben durch.“ Im Zentrum fast aller ihrer Bilder steht der Männerkörper – kein ästhetisierter Körper jedoch wie bei Riefenstahl etwa, sondern die frierenden oder schwitzenden Leiber von Knochenarbeitern. Schleim und Blut bedeckt das Ölzeug der Matrosen, die in Bergen von Heringen waten oder unter Deck Salz auf den Kabeljau schaufeln. „Männer? Nicht wirklich“, schrieb die Gefährtin und Vertraute so vieler Seeleute. „Wesen vielmehr, die ihrer Familie beraubt wurden, den Körper eingepackt in dicke Kleidung, Wesen, von denen nichts außer den Händen und dem Gesicht sichtbar ist und in deren Gesichtern, wenn es kalt ist, lediglich die Augen leben. Männer also, die nur Gesten und Blicke sind, eingeschlossen zwischen diesen Metallblechen, die von tausendzweihundertfünfzig Pferdestärken getrieben werden ... sie sind immer geteilt. Ihre Seelen sind anderswo.“

Schon als Kind war Anita Conti, damals noch Anita Caracotchian, ständig unterwegs. Mit ihrem Vater, einem jungen armenischen Arzt, und ihrer stets fröhlichen Mutter reiste sie von Bergen bis Gibraltar, von Athen bis auf die Kanalinseln. „Nita“ lief barfuß über die Strände Europas, lernte schwimmen und segeln und freundete sich überall mit den Kindern der Fischer an. Als Zwölfjährige durfte sie auf Einladung ihres Onkels, eines Rechtsberaters am ottomanischen Hof, in den Juwelen des Großwesirs wühlen und mit dem Dampfer den Bosporus hinaufschippern. „In Batumi an den Gestaden des Schwarzen Meeres sah ich Matrosen nackt für mich tanzen“, notierte das kokette Mädchen in ihr Tagebuch. Mit 18 begann sie zu fotografieren, mit 27 war Conti, deren Großvater eine Bibliothek von mehr als 30000 Bänden besaß, eine meisterliche Buchbinderin. Sie bekam Aufträge von berühmten Schriftstellern und dem belgischen Königshaus; ihre Werke wurden in den Salons von London, Brüssel und New York ausgestellt. Immer öfter fuhr die leidenschaftliche junge Frau aber auch auf Trawlern und Heringsfängern hinaus auf den Atlantik, um wissenschaftliche Studien zur Optimierung des Fischereiwesens durchzuführen. Ihre Begeisterung für das raue Leben auf See kannte kaum Grenzen. „An diesem Morgen starb ich fast vor Freude: Kein Himmel der Welt verfügte über ein so graues Grau wie dieses Grau, ein Grau wie der Flaum einer Taube, ein so wunderbar berauschendes Grau“, jubelte sie vor Grönlands Küste.

Die 1927 geschlossene Ehe mit dem Diplomaten Marcel Conti bedeutete keine Einschränkung ihrer Reisefreiheit. Der verständnisvolle Gatte tolerierte die langen Abwesenheiten und musste sich schließlich damit abfinden, dass sich Anitas Leidenschaft für das Meer als stärker und dauerhafter erwies, als es eine konventionelle Paarbeziehung eigentlich zuließ.

1935 wurde Anita Conti vom „Office scientifique et technique des pêches maritimes“ mit der Öffentlichkeitsarbeit für das neue Forschungsschiff „Président Théodore Tissier“ betraut. Vier Jahre später verbrachte sie 100 Tage an Bord des 64 Meter langen Schleppnetzfischers „Vikings“, der in den arktischen Gewässern vor Neufundland kreuzte. Tagelang saß sie als einzige Frau unter 50 Männern in engen, nach Kaffee, Schnaps und Lebertran riechenden Mannschaftsräumen. „Alles hier ist eingedost, sogar wir selbst sind eingedost.“

Nichts entging ihr: weder das ungeduldige Warten auf Post oder die Spannungen zwischen den Besatzungsmitgliedern noch die Pin-ups, die sich die Matrosen an die Kajütwände hefteten. „Die charmantesten Fotos gibt es da, ausgeschnitten und fast lebendig. Ein leuchtendes Lächeln ... nach dem Amber des Tabaks duftend, beschichtet mit Alkohol, eingefettet und -geölt, eingetunkt in geheime Träume.“ Nach Ausbruch des Krieges meldete sich die Ozeanografin freiwillig als Spionin, wurde zunächst abgelehnt, weil Frauen lediglich im Sanitätsdienst und hinter den Linien erwünscht waren. Schließlich schaffte sie es doch, als Marinefotografin und Propagandistin eingestellt zu werden. Nachdem sie ein Jahr auf Minenräumschiffen gedient hatte, stach sie 1941 mit einer ganzen Flotte von Trawlern in See. Die alliierten Truppen brauchten reichlich Verpflegung. 27 Monate lang wechselte Conti vor der westafrikanischen Küste von einem Boot zum anderen, wurde sie Zeugin von Schlachten und Torpedoangriffen. 1943 erteilte ihr das „Nationalkomitee der freien Franzosen“ in Algier den Auftrag, die traditionellen Fischereimethoden der Elfenbeinküste, Dahomeys und Guineas zu erforschen. Jahrelang lebte Anita Conti unter den Familien der afrikanischen Pirogenfischer. Nach dem Krieg setzte sie ihre Arbeit im Auftrag des Kolonialministeriums fort. Auf den îles de Los vor Conakry richtete sie mit Hilfe von Sträflingen eine Räucherkammer für Haifischfleisch ein.

Die Bilder aus dieser Zeit zeigen pittoreske Kähne, auf deren Planken sich gewaltige Haie stapeln, muskulöse Männer mit Körpern wie Hochleistungssportler, aber auch die mühsame Plackerei in den senegalesischen Minen. 1952 kehrte die inzwischen 53-Jährige aus Afrika zurück, um sich wenig später auf der „Bois Rose“ einzuschiffen. Mit an Bord waren außer 60 Mann Besatzung, 500000 Liter Diesel und 750000 Kilogramm Pökelsalz auch ein hochmoderner Radar. „Das Boot ist ein Schlachthaus“, schrieb sie in ihrem 1953 erschienenen, mit dem Prix des Vikings ausgezeichneten Buch „Les racleurs d’océan“. Ihre Kritik an der hoch technisierten industriellen Fischerei trug die engagierte Expertin und Freundin von Jacques-Yves Cousteau auf zahlreichen Konferenzen vor. Sie beschäftigte sich nun hauptsächlich mit der Fischzucht, der Entwicklung neuer Netztypen, der Ölpest und der Regenerierung leer gefischter Gewässer. Inzwischen war „la dame d’océan“ eine Berühmtheit: Schiffe wurden nach ihr benannt; in jedem Hafen, den sie ansteuerte, wurde sie ehrenvoll begrüßt, Museen und Institutionen baten um ihren Rat. „Ich bin nur ein Geschöpf, das dem Wind Widerstand bietet“, sagte sie bescheiden und schipperte noch mit weit über 70 Jahren nach Alaska, Japan, Portugal, Norwegen oder zu den Färöern. Am Heiligabend 1997 starb Anita Conti im Alter von 98 Jahren im bretonischen Douarnenez.

mare No. 34

No. 34Oktober / November 2002

Von Gero Günther

Der Literaturwissenschaftler Gero Günther, Jahrgang 1966, lebt mit seiner Familie als Autor in München. Er schreibt unter anderem regelmäßig Reiseberichte für die Berliner Tageszeitung, Allegra und Bike und veröffentlichte eine Reihe von Kurzgeschichten.

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