Künstlerkolonien: Das Atelier am Strand

Nicht nur Worpswede – Maler in ganz Europa zog es vor 150 Jahren ans Meer. Ihre Motive: Licht, Luft, freies Denken, freie Liebe

Eigentlich war das Thema Meer gerade mausetot, qualvoll und langsam verendet an den Wänden jener alljährlichen Pariser Salonausstellungen, zu denen immer nur zugelassen wurde, was Gnade vor den Augen der gestrengen Jury fand. Bilder vom großen Wasser gehörten irgendwann nicht mehr dazu. Als das Volk im Jahr 1860 wieder einmal in die Jahresausstellung der Académie strömten, waren dort gerade noch ein gutes Dutzend Gemälde sehen, die vom Meer erzählten: dramatische Szenen mit Schiffen, die an den küstennahen Klippen zu zerschellen drohten, von wartenden Frauen und Kindern, die nach Strandgut suchten.

Das waren die Themen, die der Pariser Salon seit seiner Gründung 200 Jahre zuvor erwartete: schicksalhafte Naturgewalt und Heldenmut. So aber sahen die Menschen das Meer schon lange nicht mehr, ihr Bild von der Küste hatte sich verändert. Vorher waren die einsamen Fischerdörfer an den Küsten von Bretagne und Normandie immer nur Orte gewesen, an denen sich ihre Bewohner den kargen Lebensunterhalt aus dem Meer holten. Mitte des 19. Jahrhunderts kam erst die Eisenbahn, die die den entlegenen Nordwesten des Landes erschloss. Dann folgten die Bürger aus den Städten, die sich Freizeit leisten konnten und wollten. Und dann kamen die Maler, die zum neuen Strandleben neue Bilder lieferten. Die Küste war längst nicht mehr einsame Unberührtheit, sie war – im Norden Frankreichs lange vor dem Süden – touristische Attraktion für die geworden, die es sich leisten konnten.

Der Akademie und dem Salon gefiel der moderne Blick aufs Meer nicht. Die neuen Bilder ignorierten nach Meinung der alten Männer, die zu entscheiden hatten, die Tradition, und sie hatten nichts Heroisches mehr. Zu sehen waren Flaneure, spielende Kinder, Villen und Ruderboote – Menschen, die das Meer nicht mehr fürchteten, sondern genossen. Die See war beherrschbar geworden – für eine Gruppe von Malern jedenfalls, die sich regelmäßig an der bretonischen Küste trafen und dort eine der ersten Künstlerkolonien der Moderne gründeten.

Dass es den Impressionismus überhaupt gab, lag an jenem jahrhundertealten Diktat der Akademien: Sie hatten stets vorgegeben, welche Themen auf welchen Leinwandformaten gemalt werden durften, und verteilten entsprechend ihre Zulassungen zu den Jahresausstellungen und Auszeichnungen. Gemalt wurde selbstverständlich im Atelier nach Skizzen. Spontaneität war verpönt, Stil das Qualitätsmerkmal, und Themen aus dem profanen alltäglichen Leben durften schon gar nicht wiedergegeben werden. Das änderte sich, als die Erfindung der Tubenfarbe das Malen unter freiem Himmel möglich machte. Plötzlich passte die Palette in einen Koffer, Bindemittel und mühevolles Anrühren waren überflüssig geworden, und die Natur ersetzte das Atelier.

Dass als erste die französischen Impressionisten in den 1860er Jahren scharenweise in die Fischerdörfer der Normandie zogen, hatte zwei Gründe. Zum einen hatten Romane von Victor Hugo, Guy de Maupassant und vor allem der Bestsellere „Le chemin le plus court“ von Alphonse Karr der Stadtbevölkerung die keltische Küste als romantisches Gegenprogramm zur städtischen Zivilisation angeboten. Zum anderen war das Leben in der Provinz deutlich preiswerter als in den Metropolen – und dank der Eisenbahn auch erreichbar. Paris ganz zu verlassen kam für die meisten Künstler aber nicht in Frage: Hier saßen die Galeristen, die ihre Bilder in Kommission nahmen. Und hier wohnten die Sammler, die sie kauften.

Claude Monet zog es früh zurück in die Normandie, in der er aufgewachsen war. 1867 malte der 26-Jährige auf zwei großen Leinwänden den Strand von Sainte-Adresse, einem Vorort von Le Havre. Sarah Bernhardt ließ sich hier eine Sommervilla bauen, Corot, Dufy und Marquet stellten ihre Staffeleien ans Meer. Die beiden Bilder, die Monet am Strand malte, zeigen aus fast gleicher Perspektive erst eine Morgenansicht mit kleinen blauen Fischerkähnen und gleich darauf die ungleich größeren Segelboote, mit denen sich die neuen Touristen nach der Mittagsruhe ihre Zeit vertrieben. Das türkisfarbene Meer, der steinige Strand, der graue Himmel sind auf beiden Bildern gleich. Aber das Fischerdorf vom Morgen ist nachmittags ein Ausflugsziel geworden. Drei Jahre später ist der Wandel ganz vollzogen. Das Meer, die Natur scheint Monet nicht mehr zu interessieren. Er malt jetzt nur noch die Strandpromenade mit Damen unter Sonnenschirmen und die Villen dahinter, vor denen die Trikolore im Wind weht. Monet arbeitet außerdem im durch Pferderennen und Regatten beliebten Deauville und in Trouville, in Pourville und Varengville. Seine Bilder von den Felsbögen bei Etretat, die zuvor Isabey und Delacroix, Corot und Courbet als Motiv gedient hatten, zählen heute zu den teuersten und gesuchtesten am internationalen Kunstmarkt.

Beinahe 20 Jahre später zieht es Monet noch einmal ans Meer, diesesmal an die Atlantikküste. Von September bis November 1886 durchstreift er zehn Wochen lang die vor Quiberon gelegene urwüchsige Belle-Île mit Staffelei und Palette, deren ungezähmte Natur mit ihren steilen Küsten und ihrem unberechenbaren Wetter ihn aus der Fassung bringt. „Ich befinde mich in einer wunderbar wilden Landschaft, inmitten von Felsen und einem unglaublichen Farbenmeer“, schreibt er dem Malerfreund und Sammler Gustave Caillebotte. „Ich bin voller Begeisterung, auch wenn mir die Arbeit schwer fällt, denn ich war daran gewöhnt, den Ärmelkanal zu malen, und der Ozean ist wirklich etwas ganz anderes.“ Caillebotte selbst entdeckte die Hafenstadt Dieppe für sich. Camille Pissarro malte dort die Kirche Saint-Jacques, den Alten Hafen und den Wochenmarkt. Eugène Boudin ließ ganze Bilderserien am Strand von Honfleur entstehen, für die sich zwar nicht mehr der offizielle Salon, dafür aber der erwachende und rasch wachsende private Kunstmarkt interessierte. Für die Wände der privaten Villen eigneten sich seine kleinen Formate hervorragend.


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mare No. 69

No. 69August / September 2008

Von Stefan Koldehoff

Stefan Koldehoff, 1967 an den Ufern der Wupper geboren, lebt in Köln. Dort hat der Deutschlandfunk-Redakteur eine eigene Künstlerkolonie gegründet, der inzwischen drei kleine Maler angehören.

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Vita Stefan Koldehoff, 1967 an den Ufern der Wupper geboren, lebt in Köln. Dort hat der Deutschlandfunk-Redakteur eine eigene Künstlerkolonie gegründet, der inzwischen drei kleine Maler angehören.
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Vita Stefan Koldehoff, 1967 an den Ufern der Wupper geboren, lebt in Köln. Dort hat der Deutschlandfunk-Redakteur eine eigene Künstlerkolonie gegründet, der inzwischen drei kleine Maler angehören.
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