Kreuzfahrt in die Dunkelheit

Eine polnische Auschwitz-Überlebende schrieb die Vorlage zu einer Oper über die Begegnung von Täterin und Opfer auf einer Transatlantikpassage

WALTER: Was hast du, mein Kleines? Wo schaust du hin?
LISA: Diese Frau da … sie scheint mir irgendwie ein wenig seltsam.

Es sind nicht immer große Ereignisse, die unerwartet die Welt aus den Fugen heben. Manchmal reicht ein Blick, eine unerwartete Geste, und die innere Sicherheit zerfällt in Nichts.

Im Fall von Zofia Posmysz ist es ein Gesprächsfetzen, eine einzelne, in der Menge aufgeschnappte Stimme, die die junge Frau taumeln lässt. Es ist das Jahr 1958, und die polnische Journalistin befindet sich beruflich in Paris. Dort steht sie auf der Place de la Concorde und bewundert zusammen mit Touristen aus aller Welt die Pracht der französischen Hauptstadt. Um sie herum tost der Verkehr, und schon in wenigen Stunden muss sie zurück zum Flughafen, um nach Warschau heimzureisen. Gerade, als sie sich aufmachen will, vernimmt sie inmitten der Menschenmenge die Stimme einer Frau. „Erika, komm, wir fahren schon!“ Und noch einmal: „Erika, komm, wir fahren schon!“ Zofia Posmysz erstarrt. Für einen Augenblick ist sie nicht mehr in Paris, nicht mehr in der Gegenwart, nicht mehr auf der Place de la Concorde. Stattdessen wird sie zurückgeworfen in eine andere Zeit, wird wieder zum Häftling 7566, zu einer Gestalt in gestreiftem Anzug im Lager Auschwitz-Birkenau, wo sie vor der Stimme ihrer Aufseherin zusammenzuckt.

Es ist nur ein kurzer Moment, doch für sie scheint er ewig. Tausend Gedanken schießen Zofia Posmysz durch den Kopf. Kann es sein, dass sie es ist? Sie, die Aufseherin, die Deutsche, Anneliese Franz? In keinem der Prozesse nach dem Krieg tauchte ihr Name auf – vielleicht ist sie es wirklich. Genau jetzt. Genau hier. In Paris. Noch einmal ertönt die Stimme, und erst jetzt wagt Zofia Posmysz, sich umzudrehen und der Frau ins Gesicht zu blicken. Sie ist es nicht. Die Frau, zu der die Stimme gehört, ist nicht Anneliese Franz. Es ist nur eine Touristin.

Für Zofia Posmysz jedoch hat sich alles verändert. Aufgewühlt kehrt sie nach Warschau zurück, und der Gedanke an das Erlebnis lässt sie nicht mehr los. Als ihr Mann sie abends fragt, was mit ihr los sei, erzählt sie ihm von dem Vorfall. Ihr Mann denkt kurz nach und sagt dann: „Schreib das auf.“

WALTER: Wir kehren nie in die Vergangenheit zurück. Die Zeit wusch alles fort, die Zeit wusch alles fort.

Als Zofia Posmysz im August 1923 in Krakau geboren wird, deutet nichts darauf hin, dass der Lebensweg des kleinen Mädchens die Biografie des nur vier Jahre älteren Mieczysław Weinberg einmal kreuzen wird. Noch hat das Leben der beiden Kinder gerade erst begonnen, noch ist das Grauen des Zweiten Weltkriegs weit entfernt. Noch können die Kinder einfach Kinder sein – wenn auch unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen. Zofia Posmysz wächst in einer polnisch-katholischen Familie auf. Ihr Vater ist Eisenbahner, die Mutter kümmert sich um den Haushalt. Nach dem Abschluss ihrer Schulzeit besucht die inzwischen junge Frau eine weiterführende Handelsschule in Krakau.

Weinberg hingegen lebt mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester im jüdischen Viertel Warschaus in prekären Verhältnissen. Sein Vater, Geiger und Orchesterleiter in verschiedenen jüdi- schen Theatern, bemüht sich redlich, mit seiner Musik die Familie zu ernähren, doch Geld ist immer knapp. Weinberg, der schon früh das Klavierspiel erlernt und am Warschauer Konservatorium eine Ausbildung zum Pianisten absolviert, unterstützt deshalb seine Familie, indem er in Cafés, Theatern und auf jüdischen Hochzeiten musiziert.

Mit dem Überfall von Hitlers Truppen im September 1939 auf Polen bricht das Weltgeschehen mit aller Macht in das Leben der beiden jungen Menschen ein. Weinberg weiß, dass er als Jude auf schnellstem Weg vor den Deutschen fliehen muss. Welche Zufälle, Menschen und Ereignisse es ihm ermöglichen, unbeschadet die Grenze zu Weißrussland zu überqueren, ist bis heute ungeklärt. Sicher ist jedoch, dass er auf der Flucht alles verliert. Ohne seine Eltern und seine Schwester erreicht er allein die Hauptstadt Minsk.


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mare No. 136

No. 136Oktober / November 2019

Von Verena Mogl

Verena Mogl, Jahrgang 1976, promovierte über den Komponisten Mieczysław Weinberg. Ihre Weinberg-Monografie erschien 2017 im Waxmann-Verlag. Die Passagierin hat sie schon oft in der Oper gesehen – doch jedes Mal bringt das Werk sie um die Fassung. Und Taschentücher hat sie meistens keine dabei.

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Vita Verena Mogl, Jahrgang 1976, promovierte über den Komponisten Mieczysław Weinberg. Ihre Weinberg-Monografie erschien 2017 im Waxmann-Verlag. Die Passagierin hat sie schon oft in der Oper gesehen – doch jedes Mal bringt das Werk sie um die Fassung. Und Taschentücher hat sie meistens keine dabei.
Person Von Verena Mogl
Vita Verena Mogl, Jahrgang 1976, promovierte über den Komponisten Mieczysław Weinberg. Ihre Weinberg-Monografie erschien 2017 im Waxmann-Verlag. Die Passagierin hat sie schon oft in der Oper gesehen – doch jedes Mal bringt das Werk sie um die Fassung. Und Taschentücher hat sie meistens keine dabei.
Person Von Verena Mogl