Krabbenstriptease

Zweimal im Jahr wechselt eine Krabbenart in Venedigs Lagune ­ihren Panzer. Dann schlägt die Stunde der Gourmets in der Stadt

Früh am Morgen tuckert Paolo Tagliapietra durch einen Kanal an der Insel Mazzorbo vorbei, dann biegt er bei Burano in einen Seitenarm der Lagune ab. Tagliapietra ist Krabbenfischer. Er fängt Moleche, in Venedig „mo-ecke“ gesprochen. Aber molle – italienisch für „weich“ – sind die Krabben nur für kurze Zeit. Paolo kann den Moment erkennen, in dem die Krustentiere samt neuem Panzer, Beinchen und Scheren essbar sind.

Für zwölf Stunden verwandeln sich die harten, zwickenden und daher uninteressanten Schalentiere in eine Delikatesse, dann nämlich, wenn sie ihren alten Panzer abgeworfen haben und ihr neuer noch nicht hart ist. Dieser Prozess wird unterbrochen, wenn sie aus dem Wasser gefischt werden, und lässt sich bei guter Kühlung auf drei bis vier Tage verlängern. Ihre Panzer zu knacken würde sich nicht lohnen bei einer Größe von sechs Zentimeter Länge und acht Zentimeter Breite. In der Karkasse haust ja ein noch viel kleinerer Körper. Also lauert man auf den Moment, in dem sie wehrlos und weich sind.

„Wir molecante müssen die Verwandlung abpassen, die kleinsten Veränderungen bemerken“, sagt Paolo. „Ich habe das schon als Kind von meinem Vater gelernt.“ Auf seiner Fahrt ist er inzwischen bei seinen hölzernen Käfigen angekommen, die am Rand des Kanals im Wasser hängen. In jedem Kasten wimmeln Krabbenmännchen der Gattung Carcinus aestuarii oder auch mediterraneus, die er in den letzten Tagen gefangen hat. Paolo hat ein feines Gespür für Krabben. Er sortiert blitzschnell das grünliche Getier. „Ich fühle, ob sie den Panzer wechseln – sogar durch die Handschuhe durch.“

Moleche verzehrt man in Venetien seit mindestens 500 Jahren im Frühjahr und im Herbst. Die Lagunenbewohner stehen ziemlich allein da mit ihrer Findigkeit. Die Strandkrabben leben zwar auch im restlichen Mittelmeer, aber da lässt man sie in Ruhe. Nur in New England und in Japan kennt man noch die soft shell crabs.

Ursprünglich freuten sich die Armen auf die billigen Proteine aus dem Lagunenschlamm. Heute sind die knusprigen Leckerbissen eine Sache der Feinschmecker. Doch die delikate Krabbenkost ist selten geworden. Nicht etwa, weil in den Lagunen zwischen Grado und Venedig nicht genügend davon herumwuselten. Leider gibt es kaum noch jemanden, der sie herausholt. „Mit den Moleche machst du dir den ganzen Tag kaputt“, stöhnt Paolo. „Mit Fischen bist du schneller fertig.“

Obwohl auf dem Fischmarkt in Rialto heute ein Kilogramm lebender Krabben 50 Euro kostet, lohnt sich die Plackerei kaum. „Wenn ich die reifen Krabben aus den schwimmenden Käfigen geklaubt habe, hole ich Nachschub“, sagt er. „Dann geht die eigentliche Arbeit erst los.“ Er wirft den Motor an und fährt zu seinen 15 Reusen in der nördlichen Lagune. Stunden später läuft er mit 15 prall gefüllten Jutesäcken seine Fischerhütte an, in jedem 30 Kilogramm grüne Krabben. Wenn er sie alle verkaufen könnte, wäre er fein raus. Aber er muss jede einzelne erneut prüfen, 90 Prozent seines Fangs fliegen dann zurück in den Kanal. Bei ihnen ist der Panzer bereits hart geworden. Der Rest kommt zur Beobachtung in die Zauberkisten, die er jeden Morgen checkt. Nicht einmal jede zehnte Krabbe, die Paolo aus der Lagune holt, landet auf einem Teller.

Auch für die Wirte ist es kompliziert: Das Risiko, dass sich die schönen weichen Krabben, die sie teuer gekauft haben, über Nacht in Panzerschränke verwandeln, ist da.

Wenigstens braucht es keine großen Kochkünste. „Moleche fressen Fischeier – Kaviar! – und trinken Salzwasser. Sie würzen sich selbst“, sagt Ruggero Bovo, Chefkoch der „Trattoria al Gatto Nero“ auf der Insel Burano. In einer Schüssel mit Milch rudern sechs Krabben herum. Manche Köche schwören darauf, die Moleche mit Eiermilch zu mästen oder mit Bier. Sobald sie satt und zufrieden sind, geht alles sehr schnell: Schnitt in den Panzer, in Mehl wälzen und frittieren. „Die merken nichts“, kommentiert der Koch das Zischen der Fritteuse. „Vom Schlaraffenland geht’s direkt in den Himmel.“


Venezianische Moleche

Zutaten (für vier Personen)
300 Gramm lebende Krabben (Moleche), 500 Milliliter Milch oder Bier mit Eiswürfeln oder Eiermilch, 150 Gramm Mehl, 1 Liter Erdnussöl zum Frittieren, Salz, Pfeffer.

Zubereitung
Die Krabben in gesalzenem Wasser waschen, abtropfen lassen und drei bis vier Minuten in der Flüssigkeit (Milch, Eiermilch oder Bier) schwimmen lassen. Anschließend abtropfen lassen und in Mehl wälzen. Öl auf 180 Grad erhitzen und die Moleche sieben bis acht Minuten frittieren. Auf Küchenpapier abtropfen lassen und noch knusprig-heiß auftischen. Als Hauptgericht zusätzlich mit frittiertem Gemüse servieren.

Trattoria al Gatto Nero
Via Giudecca 88, Burano, Venedig,
Tel. +39 041 730120,
www.gattonero.com
Geöffnet täglich von 12.30 bis 15 und von 19.30 bis 21 Uhr (letzte Bestellung), Sonntag- und Mittwochabend sowie Montag geschlossen.

 

mare No. 134

No. 134Juni / Juli 2019

Von Angelika Jakob

Autorin Angelika Jakob lebt und arbeitet in München. Sie schreibt und fotografiert . Auf diese Weise sind viele Reportagen entstanden, u. a. für Brigitte, die NZZ, Terra Mater, Abenteuer und Reisen.

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