Krabben an Rührei auf Stelzen

Das Restaurant „Seekiste" steht mitten im Watt vor Sankt Peter-Ording. Wer hier einkehrt, kommt so schnell nicht wieder los

Als erstes, gleich nach dem Frühstück, der Anruf beim Wetteramt: Woher kommt der Wind, bringt er Regen mit, wie hoch wird das Wasser auflaufen? Werden die Gäste auf der Terrasse speisen können? Muss die Gartensonne mit raus? Wie viele Kilo Krabben wollen geschält sein, wie viele Zentner Bratkartoffeln geschnibbelt?

„Oft rufen uns Gäste morgens an und fragen: ,Sag’ mal, wie ist das Wetter? Gut? Dann stell’ schon mal den Champagner kalt.‘ Zum Frühstück sind sie da“, erzählt der Chef. Von Hamburg zur „Seekiste“ nach St. Peter-Ording ist es ja nur ein Katzensprung. Allerdings in eine andere Welt.

Auf fünf Meter hohen Stelzen wächst sie aus dem Watt, hat den Deich fast zwei Kilometer hinter sich gelassen, vor sich nichts als die See. Mitten auf der Böhler Sandbank thront sie über den Gezeiten und hat die Schlichtheit zweier Schuhkartons. Etwas staksig die Stelzenbeine, nicht fest, nicht lose. Nicht Land, nicht See.

Mal Land, mal See. Den Tidenkalender sollten hungrige Wattläufer im Kopf haben, oder zumindest Gummistiefel an den Füßen. Sonst kann es jedenfalls bei Springflut passieren, dass man die Hüllen fallen lassen muss, um an sein Essen zu gelangen. Oder oben ein paar Stunden festsitzt, bevor das Meer und seine Bewohner sich zurückgezogen haben.

Wer mit leerem Magen aus dem Watt heraufkommt, wird schier zum Mundraub verleitet: Berge zartrosafarbener Köstlichkeiten der Nordsee warten auf einem der Tische mitten im Restaurant darauf, verarbeitet zu werden. Flinke Finger pulen die Krabben aus ihrem Panzer, 20 Kilo am Tag, in der Hauptsaison das Doppelte. Vorhin, mit auflaufender Flut, hat der Kutter sie hereingebracht in den kleinen Hafen am Eidersperrwerk. Zwischendurch kommt der Koch und trägt eine Schüssel voll Nachschub in die Küche. Später gibt’s Nordseekrabben auf Rührei mit Bratkartoffeln, Eiderstedter Porrenpann oder Krabbensuppe mit Cognac und Sahnehäubchen. Die Schalen werden nicht weggeworfen, sondern ausgekocht, als kräftige Grundlage für die Suppe. Der ganze Stolz von Ute und Ludwig Hansen: Nichts ist aus der Dose, alles machen sie selbst.

Mindestens dreimal die Woche wird die „Seekiste“ direkt mit Fisch beliefert. Abends ruft der Chef beim Händler in Esbjerg an, der kauft fangfrisch vom Kutter. Per Lastwagen landen Rotbarsch, Dorsch, Scholle, Lachs, Seezunge am nächsten Morgen an und bruzzeln mittags in der Pfanne.

Eigentlich war die Sache mit der „Seekiste“ nur ein Scherz, damals vor 23 Jahren, als Ludwig Hansen mal wieder mit dem Bürgermeister in Böhl baden war. „Da war schon so’n Imbiss, aber sah alles ‘n büschn traurig aus“, erinnert sich der gebürtige Husumer. „Sag ich zum Bürgermeister: ,Da hätt ich gern meine Finger drin.‘ ,Kanns ham‘, antwortet der, ,wird nächstes Jahr ausgeschrieben.‘“ Die Hansens machten das Rennen.

„Angefangen haben wir mit Erbsensuppe, tja, und heute haben wir die ganze Nordsee auf dem Tisch.“ Etliche hundert Essen gehen inzwischen täglich über den Tresen. 60 Plätze sind auf der Terrasse zu bedienen, drinnen 100. Und dann – dieser Blick! Manchentags Grau in allen Schattierungen, Schiefer, Blei, Nebelwände dicht wie Walkstoff, Regenschleier schräggepeitscht, hinter denen es lachsfarben durchschimmert, Gewitterfronten grau-blau, grün-grau, ungewiss, wo die Grenze ist zwischen Himmel und Meer. Anderntags wieder klar, blau mit kleinen weißen Wolken, oben bauschig, unten plattgeschliffen vom Wind. Rot, orange, pink, violett blitzt das letzte Sonnenlicht in Pfützen und Prielen, Kuhlen und Rillen, bevor die Dämmerung das Watt beruhigt.

Endlich Zeit, dem Fisch auf dem Teller die angemessene Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Rotbarschfilet, nicht fix frittiert, sondern traditionell in der Pfanne gebraten. Erst eine Seite, dann die andere. Schollenfilet mit Bratkartoffeln und dazu die beste Remouladensoße der Welt. Das jedenfalls behauptet der Mann an meiner Seite, und der muss es wissen, schließlich hat er die sieben Meere befahren.

Das Team ist klein, aber eingespielt. „Entweder man macht gleich in den ersten Wochen schlapp, oder man hält durch. Ein neuer Kollege ist mal in den ersten Tagen glattweg umgefallen.“ Vier Köche hantieren auf engstem Raum. Zwei kleine Räume – für kreatives Chaos kein Platz. „Die Speisekarte ist so abgestimmt, dass wir das schaffen können“, betont Hansen. „Kein Gast muss länger als eine halbe Stunde warten.“

Warten müssen die Gäste allenfalls darauf, dass sie nach dem Essen trockenen Fußes heimkommen. Sechs-, siebenmal in der Saison kann das vier Stunden dauern, wenn bei Neumond und Vollmond die Flut höher als sonst aufläuft. „Manche spielen Karten, andere schauen einfach raus. Die meisten Gäste finden das lustig.“

Weniger erheiternd sind echte Sturmfluten. Da schwankt die „Seekiste“ auf ihren Pfählen ein wenig hin und her, und die Gläser scheppern im Regal, aber sie hält stand. Sie ist höher als der Deich. Wenn der Gastraum unter Wasser stünde, wäre auf Eiderstedt Land unter.

Ohnehin hält sie zur Zeit der Frühjahrs- und Herbststürme ihren Winterschlaf, von November bis April ist geschlossen. Das heißt aber auch, in der Saison für den Rest des Jahres mitzuverdienen. Die Kosten sind hoch, das Salz zerfrisst die Maschinen. Die Kühlaggregate halten halb so lange wie anderswo, und das Auto fällt nach vier Jahren auseinander. Einen Ruhetag gibt es nicht. Im vergangenen Jahr war Ludwig Hansen das erste Mal im Leben auf einer Gartengrillparty.


Nordseekrabben-Suppe

Zutaten (für sechs Personen)

2 kg Krabben in der Schale, Cognac, Sahne

Zubereitung

Die Krabben puhlen. Die Schalen aufkochen und den Sud andicken. Krabbenfleisch hineingeben. Mit Cognac und Sahne nach Geschmack verfeinern und salzen.


Restaurant und Café Die Seekiste
25826 St. Peter-Ording, Tel. 04863/47 50-0.
Geöffnet von April bis Oktober täglich von 9 bis 22 Uhr. Warme Küche von 11 Uhr 30 bis 21 Uhr. Vorbestellung empfohlen

mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Von Angelika F. Pfalz und Axel Martens

Angelika F. Pfalz, geboren 1957, ist freie Wirtschaftsjournalistin und lebt in Hamburg.

Axel Martens, geboren 1968 in Varel an der Nordseeküste, arbeitet für Magazine und Werbeagenturen im In- und Ausland bevorzugt im Portrait- und Reisebereich. Für mare war er unter anderem auf der Isle of Wight bei dem Royal Yacht Squadron, dem königlichen Yachtclub, in dem vorher kein Journalist je Eintritt hatte und mit Käptn Krüss bei den Pinguinen in der Antarktis.

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Vita Angelika F. Pfalz, geboren 1957, ist freie Wirtschaftsjournalistin und lebt in Hamburg.

Axel Martens, geboren 1968 in Varel an der Nordseeküste, arbeitet für Magazine und Werbeagenturen im In- und Ausland bevorzugt im Portrait- und Reisebereich. Für mare war er unter anderem auf der Isle of Wight bei dem Royal Yacht Squadron, dem königlichen Yachtclub, in dem vorher kein Journalist je Eintritt hatte und mit Käptn Krüss bei den Pinguinen in der Antarktis.
Person Von Angelika F. Pfalz und Axel Martens
Vita Angelika F. Pfalz, geboren 1957, ist freie Wirtschaftsjournalistin und lebt in Hamburg.

Axel Martens, geboren 1968 in Varel an der Nordseeküste, arbeitet für Magazine und Werbeagenturen im In- und Ausland bevorzugt im Portrait- und Reisebereich. Für mare war er unter anderem auf der Isle of Wight bei dem Royal Yacht Squadron, dem königlichen Yachtclub, in dem vorher kein Journalist je Eintritt hatte und mit Käptn Krüss bei den Pinguinen in der Antarktis.
Person Von Angelika F. Pfalz und Axel Martens