Korsaren des Äthers

Wie machten in den 60er Jahren die illegalen Sender auf Hoher See die Beatmusik populär?

Immer wieder wird die „Mi Amigo“ von schwerer See emporgehoben, das nicht mehr ganz taufrische Schiff ächzt und zerrt an der Ankerkette, der Sturm pfeift über das Deck. Unten aber, in seinem winzigen Studio, sitzt Johnnie Walker, Disc Jockey bei Radio Caroline, und moderiert gewohnt gutgelaunt seine Abendsendung, die regelmäßig von Millionen Hörerinnen und Hörern empfangen wird. Alltag auf einem Piratensenderschiff der 60er Jahre.

Natürlich gab es auch ruhige und sonnige Perioden auf See, rauschende Parties und beste Stimmung, doch ein leichter Job war es nie, DJ oder Techniker bei den illegalen Radiosendern zu sein. Außerhalb der Dreimeilenzone lagen sie vor der englischen Küste oder hausten in alten Flaktürmen, welche, Ölplattformen vergleichbar, in der Themse-Mündung aus dem Meer ragten. Bis zu vier Wochen am Stück hielten sich die DJs an Bord der Schiffe auf, geplagt von Seekrankheit, gähnender Langeweile und häufig auch von Hunger und Durst, denn die Tenderschiffe mit Vorräten kamen, bedingt durch schlechte Witterung, oft mit gehöriger Verspätung. Es brauchte schon den Geist der alten Korsaren, unter diesen Bedingungen durchzuhalten.

Die DJs Steve Satan, alias Colin Mueslibar, und Ian Evans, heute immer noch Radio Caroline verbunden, beschrieben sich denn auch als „echte Nordseepiraten“, und Evans muss grinsen, wenn er erzählt, wie das Trinkwasser einmal mit Dieselöl verseucht war: „Ich war so durstig, ich habe tatsächlich was getrunken.“ Im Winter war die „Mi Amigo“ teilweise wochenlang ohne Heizung, und die Moderatoren verrichteten ihren Dienst eingemummelt in Pullover und Parka.

Wärmende Alkoholika waren längst aufgebraucht, und wer rauchen wollte, musste sich Tabakkrumen aus den Bodenritzen kratzen. Um so mehr genossen die „Captain Morgans des Radios“, wie sie der britische Journalist Jeremy Hornsby nannte, den „Landurlaub“, bei dem sie sich in ihrer Londoner Lieblingskneipe erholen und von den Fans anhimmeln lassen konnten.

„Die vierjährige Geschichte der neun Offshore-Stationen beinhaltet einen gewaltsamen Tod, Kämpfe mit Feuerwaffen und Brandbomben, SOS-Signale an die Küstenwache, Rettungsboote und Streitigkeiten über Metallteile“, zog Hornsby am 7. August 1967 ein dramatisches Fazit des Wirkens der englischen Piratenradios und resümierte: „Sie waren ein integraler Bestandteil der ganzen sprießenden Swinging-Pop-Hip-Fab-Explosion.“ Eine Woche später beendete trotz zahlreicher Proteste von Musikern wie Dusty Springfield, Tom Jones oder Ringo Starr ein von Labourminister Tony Benn vorangetriebenes Gesetz die Tätigkeit der meisten Stationen, die nach Schätzungen täglich 10 bis 15 Millionen Menschen mit ihren Musikprogrammen erfreut hatten. Radio Caroline reklamierte in seiner besten Zeit sogar 44 Millionen freudig lauschende Ohren für sich.

Als die Disc Jockeys der beiden beliebtesten Sender Radio Caroline und Radio London nach Beendigung der letzten Programme ihre Schiffe verlassen hatten und in London ankamen, spielten sich tumultöse Szenen ab, die durchaus an die Rückführung gefangener Piraten in früheren Jahrhunderten gemahnten. Nur mit dem Unterschied, dass die Tausende von Jugendlichen, die an der Liverpool Street Station warteten, nicht gekommen waren, um Köpfe rollen zu sehen. „Die Freiheit ging mit Radio London“, hieß es auf Transparenten, andere schmähten den für den „Marine Broadcasting Offence Act“ verantwortlichen Regierungschef: „Macht Wilson zum Ex-Premier“.

So hoch schlugen die Wellen der Begeisterung für die Freibeuter des Äthers, dass sich Caroline-DJ Mike Lennox, von kreischenden Mädchen verfolgt, in eine Toilette flüchten musste, aus der ihn – peinlich, peinlich – die Polizei befreite. Lennox war allerdings, wie etliche seiner Kollegen, längst zum Feind übergelaufen und ging wenig später für den Musiksender der BBC, Radio One, ans Mikrofon.

Die größten Helden der Offshore-Radio-Szene wurden Radio Caroline-Gründer Ronan O’Rahilly und seine Disc Jockeys Johnnie Walker und „Admiral“ Robbie Dale, die – ganz im Geiste jener seeräuberischen Vorläufer, die sich nie von irgendwelchen Regierungen gängeln ließen – trotz des neuen Gesetzes weitermachten. „Eines Tages werden wir die Themse hinaufsegeln und aus dem Herzen Londons senden“, versprach Johnnie Walker in jener denkwürdigen Nacht, als die Radios der Mittelwellenkorsaren fast alle verstummten. Nur Radio Caroline, das den ersten Tag in der Kriminalität um null Uhr mit Pete Seegers Version von „We shall overcome“ begann, überdauerte in verschiedenartiger Form bis zum heutigen Tag.

Unabhängige Radiostationen, die aus internationalen Gewässern sendeten, hatte es auch schon vorher gegeben. 1958 in Dänemark Radio Mercur, 1962 Radio Nord, das in den Schären vor Stockholm operierte, dann das von der ehemaligen schwedischen Schönheitskönigin Britt Wadner betriebene Radio Syd im Öresund. Sogar nach Wadners Verhaftung wegen illegalen Sendebetriebs führte die „Piratenkönigin“ (Schwedens Medien) ihre Geschäfte aus dem Knast weiter.

Sehr erfolgreich war Radio Veronica in den Niederlanden, das sich wie Radio Syd nicht unbedingt an eine jugendliche Hörerschaft wandte, sondern Programme für die ganze Familie produzierte. Zu den ersten Werbekunden von Veronica zählte die Strumpfmarke „Nur die“, was an den Radiobetreibern lag, die aus der Textilbranche kamen. Radio Veronica sendete nicht live von Bord seines vor Scheveningen liegenden Schiffes, sondern produzierte die Sendungen im Studio an Land. Die Bänder wurden dann an Bord eingespielt.

Ganz anders die englischen Offshore-Stationen, die aber nicht nur wegen der abenteuerlichen Bedingungen, unter denen sie ihre Sendungen erstellten, legendär wurden, sondern auch, weil sie in einer Phase der musikalischen und jugendkulturellen Revolution entstanden. Die „Beatmusik“ jener Tage zog die Teenager Europas in ihren Bann, fand jedoch kaum Widerhall in den Programmen der offiziellen Radios. Dort regierten Schlager, Tanzmusik und Klassik. Es gab keine Musiksendungen für junge Leute, lediglich Radio Luxemburg war so etwas wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Und wenn moderne Musik gespielt wurde, dann sorgten die großen Plattenfirmen dafür, dass es ihre Musik war. Kleine Labels mit Underground-Musik abseits des Mainstreams hatten keine Chance. Ein Mann wie John Peel, der bei Radio London die damals unbekannten Pink Floyd, David Bowie oder Tyrannosaurus Rex auflegte, wirkte da wie ein Diamant im Kohlenhaufen.

Glücklich durfte sich schätzen, wer nahe genug an der Nordsee wohnte und einen starken Mittelwellenempfänger hatte, um Radio Caroline, London oder andere Stationen hören zu können. Überwältigend war nicht nur die Musikauswahl, sondern auch ein völlig neuer Stil der Präsentation. Witzig und eloquent moderierten Leute wie Dave Lee Travis, der später im Beat Club den Pausenclown mimte, Keith Skues, der mit „Pop Went The Pirates“ eines der besten Bücher über diese Zeit schrieb, Dave Cash, Tony Blackburn oder eben John Peel ihre Sendungen und begründeten als Outlaws spätere ruhmreiche Karrieren auf der offiziellen Seite.

Einige der Radiogründer kamen selbst aus dem Musikbusineß. Screaming Lord Sutch etwa hatte mit „Jack The Ripper“ einen Hit, bevor er Radio Sutch gründete, das er bald an seinen unglückseligen Manager Reginald Calvert verkaufte. Andere Sender wie Swinging Radio England, aber auch Radio London hatten amerikanische Geldgeber.


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mare No. 7

No. 7April / Mai 1998

Von Matti Lieske

Der Beitrag beruht auf Recherchen des Berliner Journalisten Claus Grote. Der „Radionarr“ (Grote über Grote) hat für den ORB-Funk einen 50-Teiler über Piratensender produziert. Eine CD-Serie dazu ist bei ihm unter Tel. 030/833 51 90 erhältlich.

Matti Lieske ist Sportredakteur der taz. Man nannte ihn „Päule“ – weil er im Gymnasium Ende der 60er Jahre der kundigste Paul McCartney-Fan war. Im übrigen verehrte er die Bee Gees und verzichtete auf manche Schulstunde, um im Laden Platten anzuhören.

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Vita Der Beitrag beruht auf Recherchen des Berliner Journalisten Claus Grote. Der „Radionarr“ (Grote über Grote) hat für den ORB-Funk einen 50-Teiler über Piratensender produziert. Eine CD-Serie dazu ist bei ihm unter Tel. 030/833 51 90 erhältlich.

Matti Lieske ist Sportredakteur der taz. Man nannte ihn „Päule“ – weil er im Gymnasium Ende der 60er Jahre der kundigste Paul McCartney-Fan war. Im übrigen verehrte er die Bee Gees und verzichtete auf manche Schulstunde, um im Laden Platten anzuhören.
Person Von Matti Lieske
Vita Der Beitrag beruht auf Recherchen des Berliner Journalisten Claus Grote. Der „Radionarr“ (Grote über Grote) hat für den ORB-Funk einen 50-Teiler über Piratensender produziert. Eine CD-Serie dazu ist bei ihm unter Tel. 030/833 51 90 erhältlich.

Matti Lieske ist Sportredakteur der taz. Man nannte ihn „Päule“ – weil er im Gymnasium Ende der 60er Jahre der kundigste Paul McCartney-Fan war. Im übrigen verehrte er die Bee Gees und verzichtete auf manche Schulstunde, um im Laden Platten anzuhören.
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