Konzentrationslager: Das KZ im Ärmelkanal

Hunderte Häftlinge, Juden wie Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, fanden beim Bau von Hitlers Atlantikwall auf Alderney den Tod. Ein Überlebender erinnert sich

Die Telefonverbindung war schlecht. Fortwährend knisterte es in der Leitung. „Monsieur Trat“, sagte ich darum laut, „ich muss Sie persönlich sehen. Ich war auf Alderney, ich habe alles gesehen. Ich stehe sogar in Kontakt mit einem ehemaligen Flak-Soldaten. Bitte, Ihr Schicksal können nur Sie selbst erzählen.“ Im Hörer war ein Seufzen zu hören. David Trat sprach mit tiefer Stimme, aus der man sein Alter hören konnte. Er war jetzt 92 Jahre alt. „Das wird nicht möglich sein“, sagte er. „Es ist nur noch wenig Leben in mir. Ich kann keinen Besuch mehr empfangen. Aber Sie können mir schreiben, und ich werde antworten, so gut ich kann. Sie müssen wissen, ich habe immer gerne Post bekommen.“

Im August 1943 steigt der französische Industriezeichner David Trat aus dem Frachtraum eines Transportschiffs und sieht zum ersten Mal den Himmel über der britischen Insel Alderney. Geblendet von der überwältigenden Helligkeit, stolpert Trat vorwärts, die Hände umschließen das kleine Gepäckstück, das er bei sich trägt. Eine Gewissheit überfällt ihn plötzlich, dass die schlimmsten Zeiten noch vor ihm liegen.

Das Schiff hatte Cherbourg Stunden zuvor verlassen. Die See war rau, grün Erbrochenes seiner Kameraden klebte im Schiffsbauch in wilden Mustern. Der Geruch hängt ihm noch in der Nase, während er sich neben den anderen auf dem Kai aufreiht, die Tasche zu seinen Füßen. Ein junger Holländer in Wehrmachtsuniform spaziert auf und ab, betrachtet die 700 Männer mit schwer zu deutendem Blick. Sie alle sind Halbjuden oder Ehemänner „arischer“ Frauen. Simone Quénard, die Frau von David Trat, ist Christin. Trat ist 26 Jahre alt, doch das Deutsch, das er in der Schule gelernt hat, ist immer noch flüssig. Er und ein paar andere machen ein paar Schritte auf den Holländer zu. „Was wird uns erwarten?“, fragen sie. „Ihr werdet schwere Arbeit zu tun haben“, erwidert der, „aber hier werdet ihr gewiss nicht schlecht behandelt.“ „Und das Essen?“ „Ist angemessen“, gibt der Holländer zurück, vielleicht nicht wissend, dass ein ausgewachsener Mann zwangsläufig verhungern wird, wenn er nach 13, 14 Stunden Plackerei nicht mehr bekommt als eine wässrige Suppe und einen Kanten Brot. Vielleicht ist er auch einfach nur bösartig.

Es ist nun, denkt David Trat, ein Jahr her, dass seine Mutter in der Gaskammer von Auschwitz ermordet worden ist. Am 16. Juli 1942 war Madame Sonia Kaplan bei Massenverhaftungen in Nogent-sur-Marne mitgenommen und am 29. Juli mit dem Konvoi Nummer 12 nach Auschwitz gebracht worden. Tage später war sie tot. Es ist für ihn schwer zu begreifen, dass er sich nun selbst in einem Konzentrationslager befindet, erstaunlicher noch, dass es auf britischem Boden steht. Später, als er seine Lage besser einordnen kann, fragt er sich in jenen kurzen Momenten, bevor die Erschöpfung ihn übermannt und während die Wanzen über seinen Körper kriechen, ob er das Konzentrationslager „Sylt“ jemals wieder verlassen wird.

Bevor die erste Maschine der Luftwaffe am 2. Juli 1940 auf dem Flugfeld von Alderney landet, das zweifellos mehr Acker ist als Landebahn, und 80 Mann vom Wasser aus die verlassene Insel besetzen, gleicht das Leben auf Alderney der Jagd nach dem Kabeljau. Es gibt bessere und schlechtere Tage, aber am Ende ist das Netz immer gefüllt. Alderney ist die kleinste der Kanalinseln, dreieinhalb Meilen lang und etwa eine Meile breit, von der ungewöhnlichen Form eines gestrandeten Wals. Sie liegt nordöstlich von Guernsey. Die eine Längsseite der Insel ist sandig und von breiten, beinahe weißen Stränden umrahmt, die andere Seite ist felsig, scharfkantige Granitblöcke, die aus dem Meer ragen wie abgebrochene Zähne.

Zweimal wöchentlich macht die „Courier“ von Kapitän Noyon im Hafen fest, beladen mit Passagieren, Post und Gütern, die auf der Insel gebraucht werden. Über dem Kai hängt der ohrenbetäubende Lärm des Steinbrechers der Channel Islands Granite Company, begleitet von einer Staubwolke, die sich nach Regenfällen als zäher Schlamm über das Hafengelände legt. In der Braye Street betreibt Mrs. Collenette das Hotel „Sea View“, am Ende der Victoria Street befindet sich, ausgebreitet über drei Ladengeschäfte, der große Gemischtwarenhandel der Familie Parmentier. Von der High Street aus scheppert früh an Ostersonntagen die Blaskapelle der Heilsarmee durch die Straßen, um die Langschläfer aus dem Bett und in die Kirche zu treiben. Der Marsch führt am „Jubilee“ vorbei und am „Rink“, das als Kino und als Räumlichkeit für Tanzvergnügen genutzt wird. Zwischen Fort Albert und dem Strand von Saye Bay liegt, in sanfte Hügel gebettet, ein Golfplatz, der von Hunderten Karnickeln in Beschlag genommen ist. Von den etwas mehr als 1400 Bewohnern sind drei Ärzte, drei Metzger und zwei Bäcker, Neuigkeiten aus dem Telegrafenamt verkündet ein fest angestellter Stadtschreier. Auf den Weiden grasen genau 511 Rinder, 41 Pferde, 362 Schweine, 175 Schafe und sieben Ziegen. Ein Großteil der Tiere, ebenso wie die Bewohner, wird in kurzer Zeit verschwunden sein.

Alderney liegt nur acht Meilen vor Frankreichs Küste. An klaren Tagen zeichnet sich die Uferlinie deutlich ab, ein geübter Schwimmer könnte es hinüberschaffen, wäre da nicht eine tückische Strömung, die ihn mit Urgewalt aufs offene Meer hinauszöge. In Frankreich liegen Hitlers Armeen. Britisches Land ist in Reichweite. Die kleine Insel vor ihren Augen zu besetzen wäre nicht nur von strategischer Bedeutung, sondern zugleich ein kleiner Sieg über Winston Churchill und die alliierten Truppen. Gerüchte über eine deutsche Invasion bringen Unruhe in die Stille Alderneys. Doch niemand weiß, ob und wann die Deutschen kommen werden. Die britische Regierung mahnt zur Ruhe.


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mare No. 69

No. 69August / September 2008

Von Susanne Frömel und Katherine Kay-Mouat

Susanne Frömel, 33, hat über Monate versucht, mit David Trat zu korrespondieren, bis sie eine Antwort erhielt. Dass er sich zu schwach fühlte, um sie persönlich zu empfangen und fotografiert zu werden, bedauert sie sehr. „Er ist ein besonders charmanter Mann.“

Fotografin Katherine Kay-Mouat ist auf Alderney aufgewachsen. Sie liebt und hasst die Heimat zugleich und verarbeitet ihre widerstreitenden Gefühle in ihren Bildern. „Die Vergangenheit ist immer präsent. Es ist schwer, die natürliche Schönheit zu zeigen.“

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Vita Susanne Frömel, 33, hat über Monate versucht, mit David Trat zu korrespondieren, bis sie eine Antwort erhielt. Dass er sich zu schwach fühlte, um sie persönlich zu empfangen und fotografiert zu werden, bedauert sie sehr. „Er ist ein besonders charmanter Mann.“

Fotografin Katherine Kay-Mouat ist auf Alderney aufgewachsen. Sie liebt und hasst die Heimat zugleich und verarbeitet ihre widerstreitenden Gefühle in ihren Bildern. „Die Vergangenheit ist immer präsent. Es ist schwer, die natürliche Schönheit zu zeigen.“
Person Von Susanne Frömel und Katherine Kay-Mouat
Vita Susanne Frömel, 33, hat über Monate versucht, mit David Trat zu korrespondieren, bis sie eine Antwort erhielt. Dass er sich zu schwach fühlte, um sie persönlich zu empfangen und fotografiert zu werden, bedauert sie sehr. „Er ist ein besonders charmanter Mann.“

Fotografin Katherine Kay-Mouat ist auf Alderney aufgewachsen. Sie liebt und hasst die Heimat zugleich und verarbeitet ihre widerstreitenden Gefühle in ihren Bildern. „Die Vergangenheit ist immer präsent. Es ist schwer, die natürliche Schönheit zu zeigen.“
Person Von Susanne Frömel und Katherine Kay-Mouat