Knackige Tennisbälle mit Zitrone

Auf dem Weg zum Südpol? Dann sollten Sie im chilenischen Punta Arenas bei Victor noch die Seeigel probieren!

Ein bisschen seltsam sieht das Gebäude aus, inmitten all der niedlichen Häuschen, die sich im patagonischen Wind flach machen: ein Betonkarree, fast großkotzig. Im Erdgeschoss des Einkaufszentrums „Acapulco“ gibt es jede Menge graugesichtiger Kioske, gleich gegenüber befindet sich eine Sporthalle der Salesianer-Missionare. Die Salesianer sind im chilenischen Punta Arenas überall; sie besitzen Heime, Schulen, eine Kathedrale und ein Museum mit indianischen Schrumpfköpfen neben Modellen von Bohrplattformen. Die Plattformen in der Magellanstraße, Victor kann eine Menge davon erzählen. Zwölf Jahre hat er auf ihnen als Koch gearbeitet. Ein harter Job.

Aber nicht so hart wie in der Küche des „Mercado“, dem Rund-um-die-Uhr-Fischrestaurant von Punta Arenas. Offen für Seeleute, Segler, Hafenarbeiter, für Touristen, Müllmänner oder Suffköppe, die morgens eine chupe centolla bestellen, einen Krebs-Sahne-Auflauf. Der schmeckt wunderbar, liegt wie ein alter Käse im Bauch und ist Victors Lieblingsgericht. Victor wischt sich den Schweiß ab und flitzt in seiner kleinen Küche herum. Die drei Kellner grinsen durch die Durchreiche, schließlich erbarmt sich einer und hilft dem kleinen Koch.

Punta Arenas, danach kommt nicht mehr viel zivilisierte Welt. Wer zum Südpol will, sollte im „Mercado“ noch einmal gemütlich schlemmen, es ist vielleicht die letzte Gelegenheit. Im vorderen Teil befindet sich die Bar. Auf dem Tresen stehen zwei traurige Pinguine und eine Graugans. In roten Ledersitzen fläzen sich die Einheimischen. Im zweiten Abteil dürfen die Touristen sitzen: Panoramafenster, geschnitzte Stühle wie aus einem indonesischen Möbelbasar.

Im letzten Raum werden Gruppen untergebracht, Hochzeitsfeiern oder Familienfeten. Stahlrohrstühle mit sandfarbenen Kunstlederbezügen, Blümchenvasen. Richtig voll wird es gegen Mittag, dann wieder ab zehn in der Nacht und noch einmal am Morgen. Nie schließt das Restaurant, nur am Neujahrsmorgen macht die Belegschaft ein paar Stunden Pause.

Victor, der kleine Koch, arbeitet hier seit zwei Jahren. Das „Mercado“ befindet sich im zweiten Stock des „Acapulco“. Vor 26 Jahren hatte die Stadt versucht, einen Markt mit Fischgeschäften, Gemüsehändlern und Andenkenläden einzurichten, der lief aber nicht. Dann kam ein geheimnisvoller Inder. Sagt Victor. Der geheimnisvolle Inder, dem jetzt die meisten Geschäfte in Punta Arenas gehören, der größten, schönsten, ältesten und reichsten Stadt von Patagonien und Feuerland, dieser Inder also installierte in dem seltsamen Gebäude ein Fischrestaurant, und nun ist das „Mercado“ eine Institution: hässlich, lebendig, nie leer.

Victor erkennt seine Gäste an ihren Bestellungen. Die Chilenen etwa essen beinahe ausschließlich Steaks, dabei gibt es in Chile den besten Fisch, die besten Seefrüchte von Südamerika. Zum Beispiel locos, bissfeste, sehr teure Seeschnecken; Königskrabben, Kalmare, Seeaal, Meerzunge. Und dann die stacheligen Seeigel, die wie verfilzte, schlammbraune Tennisbälle aussehen; man knackt sie, frisch aus dem Meer geholt, wie Kokosnüsse auf. Ihre seewassersalzigen, süßen, glibbrigen Geschlechtsorgane schlürft man am besten mit etwas Zitrone. Die Japaner kaufen die Seeigel gleich von der Ernte weg.

Aber die Chilenen? Die sitzen hier bei Steaks und Nudeln und Reis mit Würstchen. Argentinier essen Fisch, Europäer Seefrüchte, Amerikaner lassen immer die Hälfte auf dem Teller zurück und trinken Coke Light und hocken da in ihren Goretex-Jacken, als ob sie gleich weglaufen wollten, wenn das Essen nicht schmeckt. Doch hier schmeckt es immer. Besonders die Suppen und die Seefrüchteplatten, schön mit salsa verde abgeschmeckt, grüner Soße. Die brennt herrlich und verschafft einen würzigen Atem.


Ein Gedicht von einem Gericht

Ode an die Seeaalsuppe

Von Pablo Neruda

Im sturmdurchwühlten Meer von Chile / lebt der rosenfarbene Seeaal, / der Aalgigant / mit schneeigem Fleisch. / Und in den chilenischen / Kochtöpfen / an der Küste / kam zur Welt die reiche, / kräftige, köstliche / Suppe. / Man bringt den enthäuteten Aal / in die Küche, / seine fleckige Haut läßt sich / abziehen wie ein Handschuh, / und da liegt er nun, / nackt, / dieses Traubengebild des Meeres, / schon schimmert / der zarte / in seiner Blöße / bereit / für unsere Begier. / Nun / nimm / den Knoblauch, / streichle zuerst einmal / dieses köstliche / Elfenbein, / rieche / seinen aufreizenden Duft, / und dann / gibst du den Knoblauch, feingehackt, / mit der Zwiebel / und der Tomate hinein, / bis die dünstende Zwiebel / goldfarben wird. / Unterdes / kochen / die Meereskrebse, / die königlichen, / im Dampf, / und wenn sie gerade / gar sind / und das Arom / in die Brühe ein-kocht, / die aus des Weltmeeres / Saft besteht / und dem klaren Wasser, / das das Licht der Zwiebel ausschied, / dann / muß der Seeaal hinein / und rühmlich darin untergehen, / auf daß er im Sudtopf / sich schließe und voll sich sauge / mit Duft und Öl. / Jetzt ist nur noch vonnöten, / wie eine geschlossenen Rose / die Sahne gleiten zu lassen / in das Gericht / und auf langsamem / Feuer / zu brodeln den Schatz, / bis in der Brühe / erwärmt sind / Chiles Essenzen / und auf den Tisch / gelangen, jung vermählt, / der Wohlgeschmack / des Meeres und der Erde, / auf daß du kennenlernst / den ganzen Himmel bei diesem Gericht.

mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Von Volker Handloik

Text und Foto: Volker Handloik

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Vita Text und Foto: Volker Handloik
Person Von Volker Handloik
Vita Text und Foto: Volker Handloik
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