Der Mann sitzt 13 Stockwerke über dem Meer und dirigiert bunte Würfel in ein virtuelles 3-D-Mosaik. Computerspiele im Watchtower. Dazu raucht Nikolai Samutschenko eine American Blend nach der anderen, die er aus der Packung fingert, ohne den Blick vom Bildschirm zu heben. Kurz schnappt sein Feuerzeug auf, dann hört man nur noch das leere Rauschen des Funkgeräts. Langeweile eines Lotsen.
Als schließlich doch noch eine Stimme aus dem Lautsprecher schnarrt, drückt Nikolai auf einen Knopf. Auf dem Bildschirm erscheint ein kleiner grauer Punkt: das Radarecho der „Georgi Uschakow“. Ein ausrangiertes Expeditionsschiff, das, zum Frachter umgebaut, zwischen Istanbul und Odessa pendelt und sich nun dem Heimathafen nähert. Zur Zeit so ziemlich der einzige Handelsverkehr hier.
Die meisten Ladekräne im Hafen stehen still, riesige Stahlskulpturen, die starr in den Himmel ragen, Relikte einer im 19. Jahrhundert blühenden Freihandelszone. Heute zerlegen Arbeiter das Skelett eines abgewrackten Schiffes mit dem Schneidbrenner. Eine alte Frau mäht mit einer Handsichel das Gras, das über die Gleise der Rangieranlage wuchert.
„Jeder Jüngling in Odessa möchte, solange er noch unverheiratet ist, die Meere befahren. Die Schiffe, die bei uns im Hafen anlegen, entzünden in unseren Herzen die Sehnsucht nach wunderbaren und neuen Ländern – doch zu unserem Kummer: Wir in Odessa heiraten mit einer sagenhaften Hartnäckigkeit“, schrieb Isaak Babel, Autor und romantischer Sozialrevolutionär. Inzwischen können die Odessiten getrost in den Hafen der Ehe einlaufen. Die fremden Länder sind ferner denn je: Mit der Union der Sowjetrepubliken zerbrach auch die einst mächtige Schwarzmeerreederei, vorbei ist die große Zeit der sozialistischen Handelsflotte. Und westliche Frachter laufen Odessa dennoch kaum an – es fehlt an Devisen und Exportgütern. Der neue Containerterminal ist seit Tagen leer. Und wenn man den ehemaligen Kapitän Nikolai fragt, welcher Blick aus dem fast fünfzig Meter hohen, rundum verglasten Watchtower ihm besser gefällt: der nach Osten, wo sich das Meer schaumgekrönt an der Mole bricht, oder Richtung Westen, wo das Panorama seiner Heimatstadt im Morgenlicht leuchtet, dann sagt er schlicht: „Nach Norden, dort, wo die Betonbauten stehen. Da wartet meine Frau.“ Von wegen Seefahrer-romantik.
Da wirkt die Ankunft der „Georgi Uschakow“ schon wie ein Ereignis. Als der Dampfer an Odessas Fährterminal anlegt, verbeißt sich ein streunender Köter in die Festmacherleine, Menschen winken. Als nach Stunden endlich die Zollformalitäten erledigt sind, beginnt es auf dem Kai zu wimmeln. Pappkartons rutschen auf Holzbohlen hinab auf die Pier, Jeans und Turnschuhe baumeln in Netzen am Kran durch die Lüfte, und in Plastik eingeschweißte Kinderwagen wandern Hand zu Hand vom Schiff über den Kai in einen Kleinlaster. Was in den Häfen von Rio bis Rotterdam im Minutentakt passiert, zieht sich hier Tage hin. Ein Wunder, daß nichts ins brackige Wasser fällt.
Zwischen all dem Zeug, das sich meterhoch an Deck türmt, dirigieren Männer in Trainingsanzügen mit wilder Gestik die Stauer, und Frauen mit rosa lackierten Fingernägeln tippen müde ihre Zahlenkolonnen in Taschenrechner. Die letzte Nacht war lang. Gegen 23 Uhr, die „Georgi Uschakow“ schob sich irgendwo zwischen dem Goldenen Horn und Odessa mit 15 Knoten durch die Nacht, da hatte die Bordbar endlich aufgemacht. Wodka floß in Strömen, und russische Rhythmen füllten den Bauch des Schiffes. Bis in den frühen Morgen schmiegten sich geschminkte Frauenwangen an glattrasierte Männerkinne. Tanz drei Meter unter dem Meeresspiegel.
„Das Geschäft lohnt sich“, sagt der Cargooffizier des Frachters, „jedenfalls, wenn man die Zöllner besticht.“ Ein paar Dollarnoten wechseln den Besitzer, und schon werden auf dem Papier aus einer Palette Sektgläser billige Plastikbecher. Der Cargooffizier stiftet die Kontakte zwischen Beamten und den „Biznizmani“. Für eine hübsche Beteiligung, versteht sich.
Alle partizipieren an den Geschäften jenseits von Recht und Gesetz. Und nur ein Fremder käme darauf, Böses dabei zu denken. Die horrenden Zölle und Steuern würden jeden Gewinn schlucken. Der ukrainische Staat will den dubiosen Handel am liebsten verbieten, aber das ist bei einem Durchschnittslohn von rund 150 Mark im Monat nie und nimmer durchzusetzen. Außerdem versorgen die „fliegenden Händler“ Odessa mit dem Wichtigsten – abgesehen von Kaviar und Wodka, der reichlich aus den heimischen Destillerien fließt.
Auch die importierten Waren landen meist auf dem Priwos-Markt, der zwischen Baracken und bröckelnden Betonbauten immer weiter wuchert. Von Selbstangebautem bis zu Selbstgebrautem ist so ziemlich alles zu haben. Da lagern Deospray und Zahnpasta Seite an Seite mit Butter und Käse. Schuhe, schwarz kopierte Kassetten oder Radios warten neben Bergen von Quark und grinsenden Schweinsköpfen auf Abnehmer. Ein Marktweib bietet ausgenommene Bisamratten feil, ein kaukasischer Bauer Ziegenmilch in Einweggläsern. Überall wird zum Probieren aufgefordert: „Kosten Sie doch nur diesen herrlichen Honig!“ – Rüben, Radieschen und natürlich Rote Beete für den Borschtsch; das Angebot ist grenzenlos. Und während sozialistische Kühe von den verblichenen Wandbildern auf den Tumult hinabschauen, wetzt draußen der Scherenschleifer die Messer.
Money! lautet der moderne Mythos am Schwarzen Meer. Hausfrauen mutieren zu Handelsfrauen, Handwerker zu Händlern. Der eine importiert Billiguhren vom Bosporus, um seine Familie zu ernähren, der andere schmuggelt Kokain, Extasy oder Heroin über den Seeweg nach Odessa. Die Glücksritter der Gegenwart machen in Geschäften, als gedächten sie der Worte Alexander Puschkins. „Dort blieb der Himmel lange blau, dort hißt geschäftig seine Segel ein Handel reich an Überfluß“, schrieb der Dichter, den die zaristische Regierung 1823/24 nach Odessa verbannte. Übrigens nicht der einzige Künstler mit Weltruhm, der hier lebte: Isaak Babel wurde hier vor rund hundert Jahren geboren. Tschaikowski und Rimski-Korsakow waren an Odessas Oper tätig. Und Maxim Gorki soll sich gar als Schauermann im Hafen verdingt haben.
Die Stadt ist jung. Auf Geheiß von Katharina II. wurden am 2. September 1794 die ersten Pfähle in die Trümmer einer ehemaligen Türkenfestung gerammt. Unter Herzog von Richelieu, der 1803 zum Gouverneur ernannt wurde, blühte Odessa schließlich zur Handelsmetropole auf – nicht ohne daß der Abkömmling aus dem französischen Hochadel gründlich mit der korrupten zaristischen Verwaltung aufräumte. Barock, Klassizismus, Neogotik und Jugendstil künden noch immer von der großen Zeit der Stadt.
Die Kaufmannshäuser, an deren prachtvollen Fassaden Atlanten und Nymphen protzen, wurden aus dem Kalksandstein gebaut, den man unterhalb der Stadt ausbuddelte. So entstand ein riesiges Labyrinth: Odessas Katakomben, in denen später Piraten und Schmuggler ihre Schätze versteckten und wo im Krieg der Widerstand gegen die Deutschen organisiert wurde, sind weitläufiger als die von Paris. Bis vor kurzem waren sie angeblich auch als Obdachlosenasyl und Operationsbasis von Waffenschiebern in Gebrauch. Wer weiß, in Odessa ist vieles möglich. Die Regierung läßt jedenfalls gerade die letzten Eingänge zumauern. Versiegelte Mythen.
In Odessa drehte Sergej Eisenstein seinen „Potjomkin“. Die berühmte Meuterei der Matrosen auf dem Panzerkreuzer begann 1905 etwa dort, wo jetzt noch immer die „Georgi Uschakow“ ihre Ladung löscht – am Fuß der berühmten Potjomkin-Treppe. Soldaten marschieren, Menschen stolpern in panischer Angst, Soldaten schießen, Menschen brechen zusammen, ein Kinderwagen rumpelt die Stufen hinab – mit todbringenden Gewehrläufen und aufgerissenen Mündern inszenierte Eisenstein sein ideologisches Meisterwerk um Heldentum, Leid und Kraft des einfachen Menschen.
Auch an diesem Tag sind Uniformen auf der Treppe zu sehen. Es ist der 8. Mai. Mächtig mit Orden behangen, mühen sich Stalins Veteranen die einhundertzweiundneunzig Granitstufen hinauf zum Primorskij-Boulevard. Sie kommen vom Denkmal des unbekannten Matrosen, wo sie unter Marschmusik und Salutschüssen den Sieg der Roten Armee über das Dritte Reich gefeiert haben. Auf dem Boulevard, der sich unter schattigen Platanen oberhalb der Küste entlangzieht, genießen sie den weiten Blick über den Hafen – und den Geruch des Meeres: den „Geruch der Decks, von Akazien, von vertrockneten Seealgen, den der Kamillen, die in den Rissen der Stützmauern blühen, und schließlich auch einen Geruch von Teer und Rost“, wie der Schriftsteller Konstantin Paustowski in den Zwanzigern schrieb.
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Roland Brockmann, Jahrgang 1961, ist freier Journalist und lebt in Berlin. Für mare schrieb er zuletzt die Reportage „Die Schmetterlinge von São Francisco dol Sul“ (in No. 10).
Stephan Erfurt, Jahrgang 1958, ist freier Fotograf und lebt in Berlin. Die Odessa-Reportage ist seine erste Arbeit für mare. Gemeinsam mit dem New Yorker Bildhauer Ríchard Serra bereitet Erfurt derzeit das Buch Weight and Measure vor.
Die Serie „Legendäre Hafenstädte“ begann in mare No. 10 mit einem Porträt von Beirut
Vita | Roland Brockmann, Jahrgang 1961, ist freier Journalist und lebt in Berlin. Für mare schrieb er zuletzt die Reportage „Die Schmetterlinge von São Francisco dol Sul“ (in No. 10).
Stephan Erfurt, Jahrgang 1958, ist freier Fotograf und lebt in Berlin. Die Odessa-Reportage ist seine erste Arbeit für mare. Gemeinsam mit dem New Yorker Bildhauer Ríchard Serra bereitet Erfurt derzeit das Buch Weight and Measure vor. Die Serie „Legendäre Hafenstädte“ begann in mare No. 10 mit einem Porträt von Beirut |
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Person | Von Roland Brockmann und Stephan Erfurt |
Vita | Roland Brockmann, Jahrgang 1961, ist freier Journalist und lebt in Berlin. Für mare schrieb er zuletzt die Reportage „Die Schmetterlinge von São Francisco dol Sul“ (in No. 10).
Stephan Erfurt, Jahrgang 1958, ist freier Fotograf und lebt in Berlin. Die Odessa-Reportage ist seine erste Arbeit für mare. Gemeinsam mit dem New Yorker Bildhauer Ríchard Serra bereitet Erfurt derzeit das Buch Weight and Measure vor. Die Serie „Legendäre Hafenstädte“ begann in mare No. 10 mit einem Porträt von Beirut |
Person | Von Roland Brockmann und Stephan Erfurt |