Kesseltreiben im Atlantik

Das Wettrennen um das Blaue Band – das es gar nicht gab

Der scharfe Bug schneidet die anstürmenden Wellen in kraftvoll unbeeindrucktem Voran. Hinter dem Heck breitet sich majestätisch eine weiße Schaumschleppe bis an den Horizont. Aus vier turmhohen Schornsteinen wirbelt dunkler Rauch nach achtern. Hochragende weiße Decks über mächtigem dunklem Rumpf, ringsum Wellen, Wind und Wolken in graustürmendem Chaos – ein Luxusliner im turbulenten Nordatlantik. Ein Übersee-Schnelldampfer auf Rekordfahrt. Einer der „Windhunde des Ozeans“ bei der Jagd, der Jagd nach dem Blauen Band.

Und ich bin dabei. Das ist es, was ich sehe: „Im Hintergrund in verschwommenen Umrissen die massiven Öfen und Kessel. Hoch oben an der Decke eine Glühbirne, die gerade soviel Licht durch die trübe, mit Kohlenstaub geladene Luft wirft, daß sich überall schwere Schatten auftürmen. Eine Reihe Männer, bis zur Taille nackt, steht vor den Ofentüren. Sie beugen sich nach vorn, schauen weder rechts noch links und schwingen ihre Schaufeln, als wären sie Teil ihres Körpers, in einem seltsamen, unbeholfenen Rhythmus. Sie benutzen die Schaufeln, um die Ofentüren aufzuwerfen. Dann ergießt sich aus diesen feurigen, runden Löchern in der Dunkelheit eine furchtbare Flut von Licht und Hitze voll über die Männer, die als Silhouetten erscheinen und in ihren geduckten, unmenschlichen Haltungen wie angekettete Gorillas wirken.

Die Männer schaufeln in rhythmischer Bewegung, sie schwingen gleichsam aus festem Drehpunkt von den Kohlen, die in Haufen hinter ihnen liegen, um sie in die flammenden Mäuler vor ihnen zu schleudern. Es herrscht ein tumultartiges Geräusch – das metallische Klirren der Ofentüren, wenn sie aufgeworfen oder zugeschmissen werden, das kratzende, zähneknirschende Schleifgeräusch von Stahl auf Stahl, von zermalmender Kohle. Dieser Widerstreit der Töne betäubt einem die Ohren mit seiner reißenden Dissonanz. Doch ist Ordnung darin, Rhythmus, mechanisch geregelte Wiederholung und Tempo. Und über all das steigt das Brüllen der lodernden Flammen in den Öfen, der monoton pochende Pulsschlag der Maschinen auf und läßt die Luft schwingen vom Beben befreiter Energie.“

So war das Anfang der Zwanziger Jahre, in der Hoch-Zeit der Luxusliner. Auf einem der großen Schnelldampfer des „Great Circle“, dem ozeanischen Bogenschlag zwischen Amerika und Europa. Und ich dabei. Ein Erlebnis, so naturalistisch-simulativ, so pseudo-authentisch, dass – rufe ich das Erlebnis auf in der Erinnerung – der Bildschock auch nach zwölf Jahren noch unmittelbar wirkt. Als wäre ich tatsächlich Augenzeuge des wirklichen Ereignisses gewesen. Es schwankte heftig, es roch nach glühendem Koks, es war beklemmend nah. Feuriges Licht floss über die Körper der Heizer und Kohlenzieher vor uns, Schweißbäche zeichneten archaische Tätowierungen auf ihre kohlenstaubgeschwärzten Körper.

Das war 1987 in der Berliner Schaubühne: Peter Steins fulminante Inszenierung von Eugene O’Neills Stück „Der haarige Affe“, aus dessen Regieanweisungen – Drittes Bild: Der Kesselraum – das Zitat stammt. Und ich höre Yank, gespielt von Roland Schäfer, noch brüllen: „Schmeißt’s ihr rein! Laßt sie abfahren! Zeigt ihr, daß sie dran ist! Treibt sie an! Fühlt, wie sie sich bewegt! Seht, wie sie raucht! Tempo ist ihr zweiter Vorname. Gebt ihr Kohle, Jungs! Kohle, das ist Schnaps für sie! Sauf ihn runter, Baby! Wir wollen dich spurten sehen! Halt dich ran und gewinn eine Runde! Und los, los, los!“

Alles nur Theater? Immerhin glaube ich seither, mir vorstellen zu können, was abging im Bauch eines solchen Superschiffs, das angetreten war, den transatlantischen Rekord wieder einmal um einen viertel Knoten Geschwindigkeit, um ein oder zwei Stunden Zeitersparnis zu unterbieten. Schon im Normalbetrieb hatten die Hundertschaften der Heizer und Trimmer bei Temperaturen von 45 Grad bis zu fünf Tonnen Kohle pro Mann und Vier-Stunden-Schicht zu bewegen. Nächst dem Bergbau war die Arbeit vor den Öfen eines Schiffes die härtest mögliche. Desertionen von Kesselraumpersonal gehörten zum leidigen Alltagsproblem der Reedereien. 1913 etwa verzeichnet die Statistik allein der bremischen Handelsflotte fast 2000 Desertionen. Bei Rekordfahrten wuchsen die Anforderungen an „die da unten“ ins Unerträgliche. Dann spätestens wurde das Fegefeuer der Kesselräume für Heizer und Kohlenzieher endgültig zur Hölle.

Und die Kosten des Kohleverbrauchs stiegen ins Quadrat. Irgendwann begannen auch die Reedereien einzusehen, dass der Werbeeffekt, die Schnellsten zu sein, in keinem Verhältnis zum Aufwand stand. Und dass es ihnen nicht einmal gedankt wurde: Denn was hatte man denn an Lebenszeit gewonnen, wenn man statt sechs Tage zwei Stunden nur fünf Tage 22 Stunden auf See war?

Es hat lange gedauert, das einzusehen. Schließlich waren transatlantische Wettrennen um Tage und Stunden, um den Preis, das schnellste Schiff der Welt zu besitzen, hundert Jahre lang erstklassiges Schlagzeilenmaterial der Reedereien gewesen. Und waren darüber hinaus, zweifellos, Antrieb technologischer Innovationen, ohne die jene rasante Entwicklung vom mühsam paddelnden Raddampfer mit Seitenhebelmaschine und acht Knoten Geschwindigkeit bis hin zum Vierschraubendampferriesen, dessen Getriebeturbinen 29 Knoten Geschwindigkeit und mehr lieferten, nicht denkbar gewesen wäre.

Als erster den Pol oder den Gipfel des Mount Everest zu erreichen, den höchsten Wolkenkratzer der Welt zu bauen, auf Rädern die Schallmauer zu durchbrechen, als erster den Fuß auf den Mond zu setzen – auf der Liste dieser je nach Standpunkt schwachsinnigen oder fortschrittsfördernden Großtaten der Menschheit gehört der Kampf ums Blaue Band unbedingt ganz nach oben.


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mare No. 15

No. 15August / September 1999

Von Hans-Christof Wächter

Hans-Christof Wächter, Jahrgang 1940, ist Theaterregisseur und Autor und lebt in Berlin. In mare No. 1 reiste er an Bord des Luxusliners Queen Elizabeth 2 über den Atlantik. In No. 12 erschien eine Besprechung seines Buchs Transatlantische Passagen. Mit der QE 2 in die Neue Welt. In diesem Heft schreibt er auch über die Matrosen von Kiribati (Seite 6).

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Vita Hans-Christof Wächter, Jahrgang 1940, ist Theaterregisseur und Autor und lebt in Berlin. In mare No. 1 reiste er an Bord des Luxusliners Queen Elizabeth 2 über den Atlantik. In No. 12 erschien eine Besprechung seines Buchs Transatlantische Passagen. Mit der QE 2 in die Neue Welt. In diesem Heft schreibt er auch über die Matrosen von Kiribati (Seite 6).
Person Von Hans-Christof Wächter
Vita Hans-Christof Wächter, Jahrgang 1940, ist Theaterregisseur und Autor und lebt in Berlin. In mare No. 1 reiste er an Bord des Luxusliners Queen Elizabeth 2 über den Atlantik. In No. 12 erschien eine Besprechung seines Buchs Transatlantische Passagen. Mit der QE 2 in die Neue Welt. In diesem Heft schreibt er auch über die Matrosen von Kiribati (Seite 6).
Person Von Hans-Christof Wächter