Kein Licht auf Eilean Mòr

Es ist nach dem Ungeheuer von Loch Ness das berühmteste schottische Mysterium: das Rätsel um eine windgepeitschte Insel, einen Leuchtturm und drei Männer, die spurlos verschwanden.

Am 26. Dezember 1900 nähert sich die „Hesperus“, das Versorgungsschiff der schottischen Leuchtturmbehörde Northern Lighthouse, der kleinen Insel Eilean Mòr, einem Außenposten am Rand der Welt im Nordatlantik. Hier, auf dem nur von Gras bewachsenen, felsigen Eiland, tun vier altgediente Matrosen ihren Dienst als Leuchtturmwärter. Turnusmäßig nimmt das Versorgungsschiff, das alle zwei Wochen anlegt, einen der Männer mit aufs Festland, sodass die Station immer mit drei Wärtern besetzt ist. Diesmal bringt es Joseph Moore nach seinem zweiwöchigen Landurlaub zurück zur Insel. Drei Tage hat unruhige See das Schiff gezwungen, Abstand zu halten. Dass in diesen beiden Nächten das Leuchtfeuer ausgeblieben ist, gibt Anlass zur Sorge.

Als der Seegang schließlich abnimmt und die „Hesperus“ wenigstens ankern kann, kommt vom Turm keinerlei Reak­tion. Kein Flaggensignal, niemand, der die in den Fels gehauenen Stufen herab­kommt, um Post und Zeitungen in Empfang zu nehmen. Der Kapitän lässt Signal geben, zuerst Sirenen, dann eine Leuchtrakete. Doch nichts rührt sich auf der Insel. Schließlich wird ein Boot zu Wasser gelassen und Moore bei immer noch rauer See mit einiger Mühe an Land gesetzt.

Er geht hinauf zum Leuchtturm, inspiziert die Räume, ruft nach den Kameraden. Aber alles ist verlassen, aufgeräumt, die Räume ausgekühlt. Auch die herbeige­rufenen Männer auf dem Landungsboot können nach der ersten Untersuchung zu keinem anderen Ergebnis kommen, als dass die Männer unauffindbar sind. Und auch eine genaue Inspektion der gesamten Insel bringt am folgenden Tag keine neuen Erkenntnisse. Von den Leuchtturmwärtern fehlt jede Spur.

Die Direktion von Northern Lighthouse hat vier Männer für den Dienst auf Eilean Mòr ausgewählt. Es sind James Ducat als Hauptkraft und als Assistenten Joseph Moore, Tom Marshall und William Ross. Letzterer ist im Dezember 1900 erkrankt, für ihn ist Donald MacArthur als Ersatzmann eingesprungen.

Auf Eilean Mòr gibt es außer dem Versorgungsschiff keine Verbindung zur Außenwelt, Telegrafen- und Telefonleitungen fehlen. Das Radio ist noch nicht erfunden, geschweige denn das Fernsehen. Alles, was den Männern bleibt, sind Unterhaltungen, Karten- und Würfelspiele, Zeitungen und Briefe. Das Wetter ist selbst im Sommer meist alles andere als freundlich, insgesamt gibt es nur wenige angenehme oder gar warme Tage, in der dunklen Jahreszeit reihen sich oft Woche um Woche Nebel, Regen und Sturm aneinander.

Einziges Ziel für Ausgänge ist die Ruine der alten Felsenkapelle, die vor Jahrhunderten ein irischer Mönch, der heilige Flannan, dort errichtet hat, ein unheimlicher Ort. Oft aber ist das Verlassen des Turmes für die Dauer von Tagen so gut wie unmöglich. Für das seelische Gleichgewicht, für die Psyche keine leichte Prüfung. Sechs Wochen Dienst, dann zwei Wochen Landurlaub – nur so lässt sich diese Arbeit auf Dauer ertragen.

Anderthalb Jahre lang haben die Männer auf diese Weise ihren Dienst versehen und täglich am Abend das Licht entzündet, das den Schiffen auf dieser Route sichere Fahrt ermöglicht. Doch in der Nacht des 15. Dezember 1900 ist die „Archtor“ unter Kapitän Holman im Vertrauen auf das Leuchtfeuer den Riffen nur knapp entgangen. Denn in dieser Nacht wurde die Lichtanlage nicht in Gang gesetzt.

Was immer den Männern widerfahren ist, es muss am Nachmittag des 15. Dezember geschehen sein. „Bis zum 13. gibt es Eintragungen im Logbuch“, erklärt Joseph Moore in seinem persönlichen Bericht an seine Arbeitgeber, „und für den 14. gibt es Eintragungen auf der Schiefertafel, zum Teil auch für den 15. Am 14. kam der Wind vorherrschend aus westlicher Richtung, mit starken Böen und Schauern. Am 15. ist das Löschen des Leuchtfeuers auf der Tafel vermerkt, zusammen mit den Barometer- und Thermometerwerten innen und außen, wie gewöhnlich notiert um neun Uhr vormittags, ebenfalls die Windrichtung.“ Dann brechen die Vermerke ab. Offenbar gab es nach Ablauf des Tages niemanden mehr, der sie hätte fortführen und das Licht im Turm hätte entzünden können.


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mare No. 119

No. 119Dezember 2016 / Januar 2017

Von Lucien Deprijck und Claudia Lieb

Lucien Deprijck, Jahrgang 1960, lebt in Köln als Autor und Übersetzer englischer und amerikanischer Literatur. Für die Leuchtturmwärterrecherche fuhr er mehrmals nach Schottland, befragte Behörden und sichtete Archive. Wie so oft bei lange überlieferten Ereignissen waren einige Details unwahr oder nicht mehr zu verifizieren.

Claudia Lieb, geboren 1976, studierte Kommunikationsdesign. Heute lebt sie in München, und wenn es möglich ist, schaut sie sich die Welt an.

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Vita

Lucien Deprijck, Jahrgang 1960, lebt in Köln als Autor und Übersetzer englischer und amerikanischer Literatur. Für die Leuchtturmwärterrecherche fuhr er mehrmals nach Schottland, befragte Behörden und sichtete Archive. Wie so oft bei lange überlieferten Ereignissen waren einige Details unwahr oder nicht mehr zu verifizieren.

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