Kaviar III: Schwarzer Schnee

Für manche ist der Rogen des Störs nicht Delikatesse, sondern Droge. Ihre Überdosis bekommen sie in St. Moritz

Nimmt man als Masseinheit für Lebenserfolg die Menge an schwarzem Kaviar, die ein Mensch im Lauf seines Lebens isst, dann kann ich mich als durchaus erfolgreiche Persönlichkeit betrachten. Dieser Gedanke kam mir, als ich meine Familie in der Villa meines italienischen Verlegers bei Mailand zurückließ, mich verabschiedete und meine Reisetasche in den Kofferraum des Mietwagens warf, die schwarze Computertasche mit unrussischer Ordentlichkeit ebenfalls hineinstellte und aus dem Tor hinaus in die Nacht Richtung St. Moritz fuhr.
Von St. Moritz hatte ich die landläufige Vorstellung eines Weltwunders für Snobs, die sich hier in Form eines Nobelskiorts materialisierte, die aber mit derselben Wirkung eine königliche Yacht mit mehreren Decks oder auch ein atemberaubendes Traumauto hätte sein können. Meine Fantasie malte mir St. Moritz als alpines Monte Carlo aus, mit protzigen, hell erleuchteten Villen, dekorativen Tannen mit goldenen Zapfen. Doch es war die legendäre St. Moritzer Leidenschaft für schwarzen Kaviar (auch wenn sie zur snobistischen Dekoration gehörte), eine von mir geteilte Leidenschaft, die mich mit lebendiger Neugier erfüllte. Die Kaviarhauptstadt Europas, ihre mit Kaviar bestrichenen Häuser, Plätze, Gesichter der Passanten zu sehen, statt Schnee Kaviarkörner vom Himmel auf die Berge, Gebirgspässe und zugefrorenen Seen fallen zu sehen – was für Fantasien ein Hirn doch in der Nacht produzieren kann …

Zwei Stunden nach Mitternacht erreichte ich die Autobahn, die zum Comer See führt; von dort ist es laut Karte nur noch ein Katzensprung nach St. Moritz. Italien war ausgestorben. Auf dem ganzen Weg bis an mein Ziel sah ich nicht mehr als ein Dutzend Autos. Ich fuhr am See entlang, der nicht schlief, wie es schien, sondern sich nur schön in seiner nächtlichen Einsamkeit wälzte, sah endlich den Abzweig in die Schweiz und bog in Richtung der in der Dunkelheit vollkommen unsichtbaren Berge ab. Ein Verkehrsschild wies auf die nahe Grenze hin. Obwohl in meinem russischen Pass ein fröhliches gelbes Schweizer Visum klebte, das sich in Moskau nur unter Höllenqualen ergattern lässt – und nur meine diplomatischen Bekanntschaften konnten diese Hölle für mich in ein leidlich komfortables Fegefeuer verwandeln –, war ich doch etwas unruhig und fürchtete, die Schweizer könnten meinem späten Besuch mit Argwohn begegnen.

Der italienische Grenzbeamte gab mir aus seinem Glashäuschen heraus ein Handzeichen: Avanti! Auf der Schweizer Seite waren alle Lichter gelöscht; die Grenzbeamten waren offensichtlich nach Hause schlafen gegangen – der Weg war frei. Die Straße wurde sofort besser, ebener, als sei sie mit einer glatten Schicht harter Schokolade bedeckt. Die Außentemperatur sank rasch. Ich fuhr in die Berge hinauf. Schon bald war am Straßenrand Schnee zu sehen, trockener, beinahe künstlicher Schweizer Schnee.

Mein ganzes Leben lebe ich über meine Verhältnisse, dachte ich, während ich als Nachtvogel über den Schweizer Bergen kreiste. Die Menge an schwarzem Kaviar, die ich im Leben selbst gekauft habe, ist lächerlich gering im Vergleich zu derjenigen, die ich zu essen bekommen habe, ob zu Hause oder als Gast. Ob das gut ist? Zuerst fütterten mich meine liebevollen Kreml-Eltern damit (Papa arbeitete dort), dann kamen die Gelage im Freundeskreis. Des Weiteren Essen mit Verlegern, Abendgesellschaften, Hochzeiten, Präsentationen, irgendwelche Einweihungsfeiern in Oligarchenhäusern.

Ich war schon immer Kaviarfanatiker. Seinen wahnsinnigen, mit nichts zu vergleichenden Geschmack fand ich aufregend. Kaviar – das ist meine Energie, mein Treibstoff. Nie konnte ich aufhören, bevor ich nicht die ganze Dose Kaviar leer gelöffelt hatte. Das sah manchmal etwas unanständig aus. Kaviar muss man richtig viel essen, mit dem Löffel, mit ganzer Seele, bis zum Platzen, Kaviar darf man nicht degustieren, mit Kaviar muss man sich vollfressen – sonst ist es, wie wenn man Bier aus Schnapsgläschen trinkt.

Bei diesem letzten Satz kam ich in der Morgendämmerung in St. Moritz an und überlegte gerade gähnend, wie ich wohl mein Hotel am besten finden könnte, als ich auch schon mit der Nase darauf stieß. Es erhob sich majestätisch an der Stadteinfahrt und hatte seine großen Flügel wie zur Umarmung ausgebreitet. Ich steuerte auf den menschenleeren Eingang zu, stieg fröstelnd aus dem Wagen, eher nicht vor Kälte, sondern von der ungewohnt sauberen Luft, auf verschlossene Türen gefasst, doch in der Rezeption gingen sogleich die Lichter an, mir entgegen eilte ein Portier, ein munterer Empfangschef überreichte mir den Zimmerschlüssel, meine Sachen wurden nach oben gebracht. In meinem Eckzimmer, das eine schöne Aussicht versprach, fand ich eine Vase mit frischen Blumen vor, außerdem einen Berg Pralinen und Obst, einen Willkommensbrief des Direktors, mit schweizerischer Würde geschrieben, sowie eine handgeschriebene Notiz voll überschwänglicher Vorfreude auf die bevorstehende Begegnung mit mir, versehen mit vielen Ausrufezeichen – von dem deutschen Fotografen, mit dem gemeinsam ich das Bild des unsterblichen Kurorts neu erschaffen sollte.

Am Morgen machte ich gleich zwei Entdeckungen. Erstens: „Mein“ deutscher Fotograf war wahnsinnig. Wahnsinnig im besten Sinn des Wortes: Er war bereit, alles zu geben, sich zu verkaufen, sich zu betrinken, sich aufzuhängen – Hauptsache, seine Fotos werden gut. Zweitens: Die junge Frau, die uns das Hotel als Begleitung zugeteilt hatte, besaß genau die richtige Mischung körperlicher und geistig-seelischer Qualitäten, sodass man ihr nicht nur Fragen stellen, sondern sogar ihren Antworten zuhören und dabei heimlich ihren Gang beobachten wollte. Ohne Zeit zu verlieren, teilte ich dem Fotografen meine Prognosen mit:
„Wenn uns in St. Moritz keine Russen über den Weg laufen oder wir keine kennenlernen, dann verbringen wir hier eine gemütliche Woche: Wir lassen uns die Sonne auf den Pelz scheinen und fahren ein bisschen Ski. Aber wenn Russen kommen, dann gibt es einen Tsunami.“

Kaum hatte ich das gesagt, prasselten die Russen auf uns herab wie Kartoffeln aus einem durchlöcherten Sack. Als Erster der mir sympathische Nikolai, ein ungestümer, stämmiger Typ mit bärenartigem Gang. Ich lernte ihn in der Bar kennen, wo wir einen Morgenkaffee tranken. Nikolai stellte sich als Besitzer eines Sportgeschäfts vor, das sich in Bern oder in Basel befand und Skiausrüstungen hierher lieferte. Er war schon morgens unterwegs mit drei jungen Mädchen in sehr offenherzigen Abendkleidern, wie sie nur russische Frauen tragen können. Ihr „Russentisch“ hätte Thomas Mann mit seinem exklusiven „Russentisch“ aus dem „Zauberberg“ vermutlich aus der Fassung gebracht. Eins der Mädchen, das einen Froschmund hatte und nach Parfüm und Alkohol roch, fing gleich an, auf mich einzureden, wobei es mir wiederholt mit der flachen Hand aufs Knie schlug, aber Nikolai schleppte sofort alle drei irgendwohin ab.
„Bis heute Abend!“, rief Nikolai.


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mare No. 63

No. 63August / September 2007

Von Viktor Jerofejew und Edgar E. Herbst

Viktor Jerofejew wurde 1947 in eine Moskauer Diplomatenfamilie geboren. Er gilt als einer der führenden Autoren Russlands. Seine Reportage über die abchasische Küste ist in mare No. 58 erschienen. In St. Moritz kam ihm zugute, dass er in Russland eine Talkshow hat. Die russischen Gäste des Hotels „Kempinski“ öffneten ihm, dem Prominenten, mehr als nur die Türen zu ihren Hotelzimmern.

Der Berliner Society-Fotograf Edgar E. Herbst arbeitet regelmäßig für die großen Illustrierten und gilt als Spezialist für nächtliche Gesellschaften. Das Zusammentreffen von Autor und Fotograf war höchst produktiv. Beide empfanden einander als wahnsinnig – und hatten viel Spaß zusammen.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.

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Vita Viktor Jerofejew wurde 1947 in eine Moskauer Diplomatenfamilie geboren. Er gilt als einer der führenden Autoren Russlands. Seine Reportage über die abchasische Küste ist in mare No. 58 erschienen. In St. Moritz kam ihm zugute, dass er in Russland eine Talkshow hat. Die russischen Gäste des Hotels „Kempinski“ öffneten ihm, dem Prominenten, mehr als nur die Türen zu ihren Hotelzimmern.

Der Berliner Society-Fotograf Edgar E. Herbst arbeitet regelmäßig für die großen Illustrierten und gilt als Spezialist für nächtliche Gesellschaften. Das Zusammentreffen von Autor und Fotograf war höchst produktiv. Beide empfanden einander als wahnsinnig – und hatten viel Spaß zusammen.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.
Person Von Viktor Jerofejew und Edgar E. Herbst
Vita Viktor Jerofejew wurde 1947 in eine Moskauer Diplomatenfamilie geboren. Er gilt als einer der führenden Autoren Russlands. Seine Reportage über die abchasische Küste ist in mare No. 58 erschienen. In St. Moritz kam ihm zugute, dass er in Russland eine Talkshow hat. Die russischen Gäste des Hotels „Kempinski“ öffneten ihm, dem Prominenten, mehr als nur die Türen zu ihren Hotelzimmern.

Der Berliner Society-Fotograf Edgar E. Herbst arbeitet regelmäßig für die großen Illustrierten und gilt als Spezialist für nächtliche Gesellschaften. Das Zusammentreffen von Autor und Fotograf war höchst produktiv. Beide empfanden einander als wahnsinnig – und hatten viel Spaß zusammen.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.
Person Von Viktor Jerofejew und Edgar E. Herbst