Die Hymne der lettischen Stadt Liepāja, zu der als fester Bestandteil der Militärgeschichte Europas heute auch der Stadtbezirk Karosta gehört, ist ein rätselhaftes Werk. Die darin besungenen Menschen sind allesamt Totengräber, die Särge zunageln, und Telegrafisten, die auf Telegrafenmasten hocken. Die einzig vorkommenden Vögel sind riesengroße Raben. Alles andere, von Anfang bis Ende, ist dem Wind gewidmet. Sein Rauschen ist hörbar in jeder Zeile. Als ich eine einheimische Journalistin fragte, was sie vermissen würde, wenn sie ihrer Heimatstadt für längere Zeit den Rücken kehrte, sagte sie, beinahe ohne zu überlegen: „Den Wind!“ Ich musterte sie genauer: Auch ihre rote Windstoßfrisur gehörte ihm.
Die hiesige Ostsee hat wenig exotische Natur zu bieten, sie ist eines der unansehnlichsten, grauesten und seichtesten Gewässer. Sie erwärmt sich erst im August, und Schwimmfreunde müssen weit hineingehen, bevor ihnen das Wasser gerade bis zur Taille reicht, dann wieder bis zum Knie und schließlich weiter draußen erneut bis an die Taille, und erst danach kann man endlich schwimmen. Für die lächerliche Wassertiefe entschädigt im Sommer der zarte Duft der rosenähnlichen Blüten dorniger Hundsrosen, deren Dickicht die Sandstrände einrahmt. Das Laub der Küstenbirken wird vom Wind abgerissen, nur an ihren Wipfeln bleibt es als zerzaustes Nest zurück. Auch die dürren Kiefern zerfleddern gnadenlose Nordwinde. Die Winde beherrschen hier die See und die Strände, sie reißen den Touristen die Hüte und Mützen vom Kopf, stopfen den Badenden Sand und Gischt in den Mund; vor ihnen verschanzt man sich im Strandgebüsch wie vor einem Bösewicht. Dafür ist die Ostsee reich an historischen Konflikten und gehört geografisch zu jenem kühlen Teil Europas, der nicht gesegnet ist mit mediterranem Zauber.
Während Liepāja die Geburtsstadt des Winds ist, wehen in Karosta bis heute die wechselhaften Winde der Geschichte. Doch diese Winde wehen hier nicht nur, Karosta fiel letztlich den Winden zum Opfer. Zu einem der Brennpunkte der baltischen Konflikte wurde dieser Militärhafen (lettisch Kara Osta) schon in den 1890er-Jahren, unter Alexander III. konzipiert als Vorposten des Russischen Reichs. Ein Zar von hünenhafter Gestalt und mürrischem Gemüt, wollte er, dass Russland seinen persönlichen imperialen Ausmaßen entsprach, und begründete Karosta als mächtigen Riegel zum Schutz der russischen Westgrenzen.
Doch welch ein Schicksal! Aus dieser imposanten Festung wurde nicht eine einzige Granate abgefeuert. Heute ist Karosta Teil eines netten, sauberen Ferienorts, und über seine Vergangenheit erfährt man Details aus Museumssammlungen oder aus dem Mund von Reisebegleitern mit viel Sinn für historische Anekdoten.
Ich kam nachts bei strömendem Regen aus Riga in Karosta an, der Himmel, untypisch für das Baltikum, illuminiert von Gewitterzellen, die Donnerschläge und Blitze aus allen Himmelsrichtungen schickten. Unser Wagen schleuderte Wasserfontänen von den Straßen, die sich in kleine Flüsse verwandelt hatten, und der Fahrer, ein Einheimischer russischer Herkunft aus Liepāja, nickte nach links und rechts und erzählte mir, dass infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion nach und nach große und kleine Fabriken in der Stadt – Metall, Kinderwagen, Zucker – geschlossen worden waren, kurzum, wirtschaftlicher Kollaps. Irgendwo zwischen den schwarzen Bäumen blitzten kurz die goldenen Kuppeln der riesigen orthodoxen Marinekathedrale auf, verschwanden aber gleich wieder aus dem Blickfeld. Mit dem Eindruck des städtischen Niedergangs, in dessen Folge viele Bürger in andere Länder abgewandert waren, legte ich mich im Hotel „Promenade“ schlafen, doch als ich am Morgen aus dem Fenster sah, erblickte ich strahlend blauen Himmel und zahlreiche Ausflugsboote am Kai eines Kanals. Mir kam das russische Sprichwort in den Sinn: „Der Morgen ist klüger als der Abend.“
An wen könnte ich mich wenden, um über die Geschichte des Militärhafens zu sprechen? Die Reise nach Karosta erfreute mich durch Begegnungen mit den unterschiedlichsten Typen einheimischer Kenner der städtischen Sehenswürdigkeiten. Ich erwähnte bereits die temperamentvolle, vom Wind zerzauste Patriotin aus Liepāja-Karosta mit ihrer felsenfesten Überzeugung, es gebe nichts Besseres als diese Stadt. Aber während die 57-Jährige Journalistin ausgezeichnet Russisch sprach, unterhielt ich mich mit Baiba, die zur neuen Generation der Patrioten ihrer Stadt gehört, schon auf Englisch. Vom sowjetischen Erbe ist der Mutter von fünf Kindern nur eine Wohnung mit 2,30 Meter hohen Decken geblieben. „Wir sind ja gar nicht so groß“, lächelte sie. Apropos Lächeln: Als ich den Bürgermeister Gunārs Ansinš während unseres Treffens fragte, was ihm am meisten an seiner Stadt gefalle, sagte er: das Lächeln. Tatsächlich lächeln die Menschen hier gern und haben auch nicht die Angewohnheit, Kinder anzuschreien.
Der geschäftige Bürgermeister mit dem energischen Gesichtsausdruck lächelte selbst nur selten. Seine Geschichte über Karosta enthielt interessante Details. So besitzt Karosta beispielsweise nach wie vor eine von den anderen Stadtteilen unabhängige Energieversorgung, was seine exklusive historische Rolle ausdrücklich bewahrt. Außerdem erzählte der Bürgermeister begeistert von seinem früheren deutschen Vorgänger – „sein Konterfei hängt in meinem Büro“ –, der am Meer einen ausgedehnten, wundervollen Park mit Linden, Kastanien und Ahornbäumen anlegen ließ, deren Kronen bis zum Himmel reichen und der Liepāja in eine Gartenstadt verwandelte.
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Wiktor Jerofejew, Jahrgang 1947, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands. Er ist regelmäßiger mare-Autor. Seit seiner Recherche in Lettland weiß er: „Wir alle sind ein bisschen wie dieses verrückte baltische Karosta: Wir gehen in uns selbst, um besser zu verstehen, wer wir sind.“
Die armenische Fotografin Anush Babajanyan, geboren 1983, lebt in Eriwan und München. Zwei Wochen fotografierte sie im Auftrag von mare in Karosta und Umgebung. „Während ich entlang der Ruinen der historischen Festung fuhr, offenbarte sich mir mit jeder Kurve eine neue Facette der Vergangenheit und Gegenwart dieses Gebiets. Diese Erfahrung wurde zu einer meditativen Erkundung von Landschaft, Geschichte, Erinnerung und Wandel.“
| Lieferstatus | Lieferbar |
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| Vita | Wiktor Jerofejew, Jahrgang 1947, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands. Er ist regelmäßiger mare-Autor. Seit seiner Recherche in Lettland weiß er: „Wir alle sind ein bisschen wie dieses verrückte baltische Karosta: Wir gehen in uns selbst, um besser zu verstehen, wer wir sind.“ Die armenische Fotografin Anush Babajanyan, geboren 1983, lebt in Eriwan und München. Zwei Wochen fotografierte sie im Auftrag von mare in Karosta und Umgebung. „Während ich entlang der Ruinen der historischen Festung fuhr, offenbarte sich mir mit jeder Kurve eine neue Facette der Vergangenheit und Gegenwart dieses Gebiets. Diese Erfahrung wurde zu einer meditativen Erkundung von Landschaft, Geschichte, Erinnerung und Wandel.“ |
| Person | Von Wiktor Jerofejew und Anush Babajanyan |
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| Vita | Wiktor Jerofejew, Jahrgang 1947, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands. Er ist regelmäßiger mare-Autor. Seit seiner Recherche in Lettland weiß er: „Wir alle sind ein bisschen wie dieses verrückte baltische Karosta: Wir gehen in uns selbst, um besser zu verstehen, wer wir sind.“ Die armenische Fotografin Anush Babajanyan, geboren 1983, lebt in Eriwan und München. Zwei Wochen fotografierte sie im Auftrag von mare in Karosta und Umgebung. „Während ich entlang der Ruinen der historischen Festung fuhr, offenbarte sich mir mit jeder Kurve eine neue Facette der Vergangenheit und Gegenwart dieses Gebiets. Diese Erfahrung wurde zu einer meditativen Erkundung von Landschaft, Geschichte, Erinnerung und Wandel.“ |
| Person | Von Wiktor Jerofejew und Anush Babajanyan |