Jede Robbe zählt

Was tun, wenn Seehunde krank werden? Auf die Natur vertrauen? Oder helfen? Besuch in einer niederländischen Aufzuchtstation

Knuffig sieht sie ja schon aus. Seelenvolle Augen im pelzigen Gesicht. Ein keckes Bärtchen. Und dazwischen dolchspitz schimmernde Zähne, scharf wie Tranchiermesser, so wie man sie auf Robbenbildern nie sieht, denn sie würden ja nur ablenken von dem rührend runden Kopf und dem flauschigen Charme. Doch bei Flapje sind sie gut zu sehen, was daran liegt, dass sie das Maul aufreißt und faucht. Bedrohlich faucht. Wie ein Wildtier, dessen Vorfahren jahrhundertelang gejagt wurden und das Menschen nicht traut, nicht einmal, wenn sie Heringe bringen.

Marielle, die Freiwillige aus Frankreich, stellt die Schüssel auf den weiß gekachelten Boden und tritt in ihren schweren Gummistiefeln behutsam näher. Sie ist Tierärztin und erfahren mit Meeressäugern, erst vor zwei Wochen kehrte sie aus Kanada zurück, wo sie vier Jahre lang Seehunde pflegte. Doch Flapje ist eine Kegelrobbe, eine Cousine des Seehunds, und die sind temperamentvoller, hat Marielle in den acht Tagen gemerkt, die sie nun hier in der Aufzuchtstation Pieterburen arbeitet. Größer sind sie auch. Marielle ist zierlich, charmant, Anfang dreißig, und Flapje wiegt halb so viel wie sie, obwohl Flapje sich zuletzt nicht selbst ernähren konnte, wegen der bösen Wunde an ihrer Schwanzflosse.

Marielle greift nach dem Handtuch. Der Plan sieht vor, dass sie es ihr über Hals und Augen wirft, denn wie viele Tiere sind auch Robben zahmer, wenn sie nichts sehen. Dass sie sich sodann rittlings über sie niederkniet wie ein Jockey auf einem Rennpferd und den Robbenkopf in einer festen Umarmung gegen den eigenen Brustkorb presst. Dass sie eine Hand löst, einen Fisch aus der Schüssel greift und ihr das glitschige Schuppentier irgendwie zwischen die Zähne bohrt. Und dann schiebt, mit aller Kraft schiebt, bis es in die Kehle gerutscht ist. Dass sie das sieben Mal wiederholt, denn so viele Fische liegen in der Schüssel, mögen ihre Armmuskeln auch brüllen vor Anstrengung. Stoßgebete, dass Flapje bald lernen möge, sich ihre toten Heringe aus dem Becken zu fischen, wie es alle Robben in Pieterburen irgendwann einmal tun, sind optional.

Das Füttern strengt selbst dann an, wenn die Robbe kooperiert. Flapje aber kooperiert nicht. Seit drei Wochen liegt sie hier in Quarantäne, das macht, grob überschlagen, 70 Fütterungen, doch Robben gewöhnen sich auch nach Monaten kaum an Menschen. Und Flapje ist besonders misstrauisch. Gestern drehte sie sich auf den Rücken, sobald sich Marielle näherte. Bei einem Hund würde das Unterwerfung anzeigen, bei einer Robbe heißt das nur, dass sie sich höher aufbäumen und zuschnappen kann.

In Sekunden hatte Flapje ein klaffendes Loch ins Handtuch gebissen. Keine Chance, es ihr über die Augen zu werfen. Immer wieder hatte sich Marielle herangeschoben, das zerfetzte Tuch vor sich haltend wie ein Torero seine Muleta. Schließlich hatte Richard, ihr erfahrener Kollege, Mitleid bekommen. Er schob sich ins Gehege, nahm ihr das Handtuch ab, schnappte sich die Robbe und fütterte sie mit wenigen Griffen. „Wenn sie sich so anstellen, dann vergiss die Augen, greif zu und pass auf, wo deine Finger landen“, lautet sein Mantra für diese Situationen.

Den ganzen Tag hatte es Marielle gewurmt. Noch abends, als sie in der Unterkunft für die Freiwilligen einen Blumenkohlauflauf in den Ofen schob, weil sie mit dem Kochen an der Reihe war, hatte sie enerviert die Augen gerollt. „Es ärgert mich, dass ich es nicht geschafft habe, sie selbst zu füttern.“ Am liebsten würde sie fest in der Aufzuchtstation angestellt werden, dafür bezahlt werden, den ganzen Tag mit ihren Lieblingstieren, den Robben, zu verbringen. Und so ist ihr Blick an diesem Morgen fest entschlossen. Sie wird Flapje füttern. Langsam hebt sie das Handtuch.


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mare No. 44

No. 44Juni / Juli 2004

Von Ute Eberle und Justin Jin

Ute Eberle lebt im holländischen Leiden. Erst nach ihrer Rückkehr aus Pieterburen verstand sie, was die Pfleger den „merkwürdigsten Geruch der Welt“ nennen: In ihrer Tasche steckte das würzige Aroma von Fisch, Putzmitteln und Robbenkot.

Fotograf Justin Jin, Jahrgang 1974, fand es gelegentlich schwer, sich auf seinen Job zu konzentrieren – während die Seehunde an seiner Hose kauten.

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Vita Ute Eberle lebt im holländischen Leiden. Erst nach ihrer Rückkehr aus Pieterburen verstand sie, was die Pfleger den „merkwürdigsten Geruch der Welt“ nennen: In ihrer Tasche steckte das würzige Aroma von Fisch, Putzmitteln und Robbenkot.

Fotograf Justin Jin, Jahrgang 1974, fand es gelegentlich schwer, sich auf seinen Job zu konzentrieren – während die Seehunde an seiner Hose kauten.
Person Von Ute Eberle und Justin Jin
Vita Ute Eberle lebt im holländischen Leiden. Erst nach ihrer Rückkehr aus Pieterburen verstand sie, was die Pfleger den „merkwürdigsten Geruch der Welt“ nennen: In ihrer Tasche steckte das würzige Aroma von Fisch, Putzmitteln und Robbenkot.

Fotograf Justin Jin, Jahrgang 1974, fand es gelegentlich schwer, sich auf seinen Job zu konzentrieren – während die Seehunde an seiner Hose kauten.
Person Von Ute Eberle und Justin Jin