Japans verlorene Töchter

Anfang des 20. Jahrhunderts emigrieren in großer Zahl japanische Frauen in die USA, um dort einen unbekannten Mann zu heiraten. Heiratsvermittler haben sie allein über den Pazifik verschickt


Wie jung sie ist, gerade einmal 16 Jahre alt, und doch wirkt sie so erwachsen auf dieser Fotografie, als wüsste sie bereits, was das Leben für sie bereithält. Es ist das Jahr 1905, als die Aufnahme entsteht. Sie zeigt Haruyo Shimohara, ein hübsches Mädchen im Kimono mit locker zusammengestecktem Haar, kurz bevor sie alles verlässt, was sie liebt. Es ist ein Abschied für immer, von ihren Eltern, ihren Freunden, ihrem Heimatdorf in der Nähe von Hiroshima im Süden Japans – schmerzhaft und unbegreiflich.

Im September 1905 begibt sie sich in die Hafenstadt Yokohama, von wo aus sie die vier Wochen lange Pazifiküberfahrt startet. Ob sie weint vor Angst oder zittert vor Neugier, das ist nicht überliefert.

Sicher aber ist: Haruyo Shimohara, ein einfaches Mädchen vom Land, hat noch nichts gesehen von der Welt. Und jetzt soll sie in Amerika einen Mann heiraten, einen Fremden, den sie nur vom Foto eines Heiratsvermittlers kennt. Weil ihre Eltern es so beschlossen haben.

Es ist so etwas wie die Urform des Blind Dates. Über ihren versprochenen Mann kennt Haruyo Shimohara nichts mehr als von diesem einen Foto – ein Mann in Kimonojacke und Cowboyhut – und ein paar Fakten: Japaner, 26 Jahre, gelernter Zimmermann, zurzeit Eisenbahnarbeiter in Idaho, vor vier Jahren in die USA ausgewandert. Ob er nett ist oder nicht, still oder laut, ungehobelt oder kultiviert? Ob er trinkt oder nicht, herrisch ist oder sanft, faul oder fleißig? Haruyo Shimohara weiß es nicht.

Im Oktober 1905 trifft ihr Schiff in British Columbia, Kanada, ein. Dort wird sie von Gohei Kanase, ihrem zukünftigen Ehemann, abgeholt. Nur wenige Tage später findet die Hochzeit statt, am 14. Oktober 1905 in Vancouver, das belegt eine alte Eintragung im Standesamt. Anschließend reist das Paar über Land in die Vereinigten Staaten ein – auch das ist dokumentiert –, wo es sich schließlich im zentralkalifornischen Fresno niederlässt. Die folgenden Jahre arbeiten beide auf einer Pfirsichfarm in der Nähe.

Ist das der Traum eines 16-jährigen Mädchens? Tägliches Schuften auf dem Feld, bei 40 Grad und unter sengender Sonne? In einem Land, fernab von der Heimat, dessen Sprache es nicht spricht? Abhängig von einem Fremden im Ehebett?

„Meine Mutter war eine warmherzige Frau, die die Natur geliebt hat. Sie hat sich nie über irgendetwas beschwert“, sagt Irene Kono, die Tochter jenes Mädchens, das seine Jugend aufgeben musste. Da sitzt sie nun, in einem Café in Palo Alto, Kalifornien. 91 Jahre ist Irene Kono alt, sie könnte aber auch 71 sein, die Sätze sprudeln nur so aus ihr heraus. Ihr Haar, voll und fast so schwarz wie früher, die mandelförmigen Augen, wach und fröhlich. Ihre Gene seien nun einmal japanisch, sagt sie, und man wisse ja, wie alt japanische Frauen werden. Sie lächelt, und es ist das Lächeln einer Frau, die ein bewegtes Leben hatte.

Wo immer sie in den USA zu Hause war in den vergangenen 91 Jahren, Chicago, Berkeley, Palo Alto, Los Angeles, immer fühlte sie sich „durch und durch als Amerikanerin“, sagt Irene Kono. Das übergroße Stück Sahnetorte vor ihr, der Cappuccino, das passt so gut zu dieser alten Dame, die den American Way of Life so verinnerlicht hat, als gebe es auf der Welt nichts anderes. Irene Kono ist ein „nissei“, wie man auf Japanisch sagt, ein Kind der ersten japanischen Einwanderer, eine Generation, die kaum oder gar kein Japanisch mehr spricht und Japan, wenn überhaupt, nur als Urlaubsland kennt. Wollte man Menschen wie Irene Kono in einem Satz charakterisieren, könnte man sagen: außen japanisch, innen amerikanisch.

Sie sind assimiliert und mittendrin in der amerikanischen Gesellschaft. Auf der einen Seite. Auf der anderen sind sie Hin- und Hergerissene zwischen zwei Kulturen, und Irene Kono könnte fast symbolhaft dafür stehen. Ausgerechnet jetzt, mit Anfang 90, hat sie damit begonnen, in ihrem Inneren zu wühlen. Das, womit sie jahrzehntelang zufrieden war, nämlich eine ganz normale Amerikanerin zu sein, reicht ihr nicht mehr, sie will mehr wissen über ihre Wurzeln, die japanisch sind, über die Umstände, wie ihre Mutter nach Amerika kam.


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mare No. 94

No. 94Oktober / November 2012

Von Jan Keith

Als Sohn einer Japanerin und eines Deutschen ist Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, selbst ein Hin- und Hergerissener zwischen zwei Kulturen.

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Vita Als Sohn einer Japanerin und eines Deutschen ist Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, selbst ein Hin- und Hergerissener zwischen zwei Kulturen.
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