Ist hier jemand?

Ein Wal mit einer einzigartigen Stimmlage beschäftigt Meeres­biologen – und einen Computermathematiker

Gesehen wurde er noch nie. Gehört aber sehr wohl. Vielleicht ist er ein Finnwal, vielleicht auch ein Blauwal. Oder ein „Mischling“ aus beiden Arten? Solche Hybride sind selten bei Walen. Aber es gibt sie. Sicher ist: Vielen Menschen gilt der Held dieser Geschichte als „der einsamste Wal der Welt“.

Dass er aufgespürt wurde, hat mit dem Kalten Krieg zu tun. In den 1950er-Jahren installierte die US Marine das Sound Surveillance System (Sosus) auf dem Meeresgrund, ein globales Netzwerk unzähliger Unterwassermikrofone. Man wollte sow­jetische U-Boote belauschen und hörte, gleichsam als akustischen Beifang, auch die Rufe und Gesänge von Walen. Sosus war streng geheim. In den späten 1980er-Jahren aber, gegen Ende des Kalten Kriegs, erlaubten die US-Militärs auch Meeresbiologen, die Abhöranlage zu nutzen. Wissenschaftler konnten die Kommunikation und die Wanderungen von Walen nun viel genauer verfolgen.

Im Dezember 1989 bemerkte der Bio­akustiker William Watkins von der Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts ein seltsames Tonsignal im Nordpazifik. Es erinnerte ihn an die Rufe von Blau- und Finnwalen. Doch deren Laute liegen normalerweise bei einer Frequenz von etwa 17 Hertz. Sie sind so tief, dass das menschliche Ohr sie nur wahrnehmen kann, wenn ihre Aufzeichnungen in 30-facher Geschwindigkeit abgespielt werden. Diese Töne dagegen lagen bei 52 Hertz – viel zu hoch für einen Wal. Dennoch kamen Watkins und sein Kollege zur Überzeugung, dass der Urheber ein solcher Riese der Meere sein musste. Denn die Wanderrouten des unbekannten Wesens, das die Forscher „52“ tauften, passten perfekt zu einem Walbullen. 52 Hertz aber sind kaum tiefer als das Brummen von Neonröhren, das bei 60 Hertz liegt. Ob der „52-Hertz-Wal“ einen Leuchtkörper verschluckt hatte?

William Watkins und sein Team verfolgten seine Töne über viele Jahre hinweg. Niemals schien ein anderer Wal in die Rufe von „52“ einzustimmen. Dabei ist die Stimme existenziell für Wale. Vielleicht hat ihr Gesang sie sogar vor der Ausrottung bewahrt: Nachdem die Menschheit Wale jahrzehntelang gnadenlos abgeschlachtet hatte, entdeckten Bioakustiker in den 1960ern, was für eindrucksvolle Klangkunstwerke Buckelwale er­schaf­fen. Auch die Musikindustrie erkannte das Potenzial dieser Meistersänger der Ozeane: Die Langspielplatte „Songs of the Humpback Whale“ (Lieder der Buckelwale) von 1970 wurde ein Bestseller. Die Schönheit ihrer Gesänge, die in ihrer Struktur musikalischen Komposi­tionen ähneln, gaben der Walschutzbewegung Aufschwung – und schon bald schränkten die Vereinten Nationen die Jagd auf die Riesen der Meere radikal ein.

Wale sind eine Art Künstler. Und jubelnde, vor Freude kreischende Fans machen Kulturschaffende glücklich. Doch jede Reaktion ist besser als gar keine – selbst Pfiffe und Buhrufe setzen zumindest voraus, dass man von einer Darbietung Notiz genommen hat. So gesehen dürfen wir uns den Barden Troubadix aus dem berühmten gallischen Comicdorf als vergleichsweise glücklich vorstellen. Denn seine Sippe schenkt ihm regelmäßig ihr Ohr – wenn auch nur, um ihn dann zeitnah zu verprügeln und zu knebeln. 

Der Held dieser Geschichte dagegen wird nicht einmal vermöbelt, wenn er ­seine Stimme erklingen lässt. Kein Artgenosse, sagen Fachleute, hat je auf seinen Gesang reagiert. Manche Meeresbiologen spekulieren, dass „52“ ein Hybrid aus Finn- und Blauwal sei und aus diesem Grund nicht gelernt habe, den richtigen Ton zu treffen. Andere glauben, dass seine zu hohe Stimme mit einer Missbildung des Kehlkopfs zusammenhängen könnte. In jedem Fall eine traurige Existenz.

Als die Woods Hole Oceanographic Institution 2004 die Ergebnisse ihrer Langzeitstudie zu den Lautäußerungen des ominösen Wals in einer Fachzeitschrift veröffentlichte, löste das ein gewaltiges Medienecho aus: Die CNN berichtete über „52“, die BBC, die „New York Times“ – und Dutzende Leserinnen und Leser wandten sich an die Bioakustiker in Massachusetts, um ihr Mitgefühl mit dem „einsamen Wal“ zum Ausdruck zu bringen. Viele wollten wissen, ob man ihm irgendwie helfen könne.


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mare No. 157

mare No. 157April / Mai 2023

Von Till Hein und Mark Fischer

Till Hein, Jahrgang 1969, Autor in Berlin, erreicht mit seinen gesanglichen Darbietungen bei Artgenossen deutlich mehr Gehör als der „52-Hertz-Wal“. Wenn er früher seinen überdrehten Kindern nachts Schlaflieder vorsang, riefen sie immer: „Papa auch Bett gehen!“ – „Sie legten sich dann ohne Protest hin, Hauptsache, ich hielt wieder die Schnauze“, erinnert er sich.

Mark Fischer, Softwareentwickler im kalifornischen Santa Clara, hat mathematische Verfahren, sogenannte Wavelets, entwickelt, um Stimmlagen und Lautstärken einzelner Wale farbig grafisch darzustellen und in Mandalas aus Schallwellen zu übertragen. Das Bild des „52-Hertz-Wals“ stellte er eigens für mare her.

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Vita

Till Hein, Jahrgang 1969, Autor in Berlin, erreicht mit seinen gesanglichen Darbietungen bei Artgenossen deutlich mehr Gehör als der „52-Hertz-Wal“. Wenn er früher seinen überdrehten Kindern nachts Schlaflieder vorsang, riefen sie immer: „Papa auch Bett gehen!“ – „Sie legten sich dann ohne Protest hin, Hauptsache, ich hielt wieder die Schnauze“, erinnert er sich.

Mark Fischer, Softwareentwickler im kalifornischen Santa Clara, hat mathematische Verfahren, sogenannte Wavelets, entwickelt, um Stimmlagen und Lautstärken einzelner Wale farbig grafisch darzustellen und in Mandalas aus Schallwellen zu übertragen. Das Bild des „52-Hertz-Wals“ stellte er eigens für mare her.

Person Von Till Hein und Mark Fischer
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Till Hein, Jahrgang 1969, Autor in Berlin, erreicht mit seinen gesanglichen Darbietungen bei Artgenossen deutlich mehr Gehör als der „52-Hertz-Wal“. Wenn er früher seinen überdrehten Kindern nachts Schlaflieder vorsang, riefen sie immer: „Papa auch Bett gehen!“ – „Sie legten sich dann ohne Protest hin, Hauptsache, ich hielt wieder die Schnauze“, erinnert er sich.

Mark Fischer, Softwareentwickler im kalifornischen Santa Clara, hat mathematische Verfahren, sogenannte Wavelets, entwickelt, um Stimmlagen und Lautstärken einzelner Wale farbig grafisch darzustellen und in Mandalas aus Schallwellen zu übertragen. Das Bild des „52-Hertz-Wals“ stellte er eigens für mare her.

Person Von Till Hein und Mark Fischer