Inventur im Abyss

Wir kennen die Oberfläche des Mars besser als Flora und Fauna unserer Ozeane. Deshalb widmen sich Forscher weltweit zurzeit einem Riesenprojekt: dem Zensus der Meere

Würmer, noch dazu solche mit hakenbewehrten Borsten, empfinden die meisten Menschen als wenig attraktiv. Zur kleinen Schar der Borstenwurmbegeisterten zählt dagegen die Biologin Brigitte Ebbe, die dem Besucher in einem nur von Bücherregalen gezierten Raum im Bonner Museum König einen ihrer Lieblinge präsentiert, einen noch nicht näher bestimmten marinen Borstenwurm der Gattung Tomopteris. Das rund fünf Zentimeter lange, mit seinen zahllosen seitlichen Scheinfüßchen vergleichsweise spektakulär aussehende Tier dümpelt in Alkohol unter Ebbes Binokular, durch das man auch die filigran ausgezogenen Antennen bestens erkennen kann.

Ihre besondere Zuneigung zu dem Tierchen dürfte ihren Grund nicht zuletzt in den persönlichen Entbehrungen haben, die sie auf sich nahm, um an ihre Studienobjekte zu gelangen. Für das Projekt Andeep (Antarctic benthic deep-sea biodiversity) fuhr sie mit dem deutschen Forschungsschiff „Polarstern“ zwischen 2002 und 2005 dreimal in das Weddellmeer östlich der Antarktischen Halbinsel, wo zum ersten Mal überhaupt die Fauna des antarktischen Tiefseebodens untersucht wurde. „Das war unglaublich anstrengend“, erinnert sich Polychaetenfachfrau Ebbe, „wir haben jedes Mal wochenlang praktisch ohne Unterbrechung im Schichtsystem gearbeitet – jede Sekunde Expeditionszeit kostet einen Euro, da kann man sich Leerlauf nicht leisten.“ Entspannter geht die seither andauernde Klassifizierung der damals gefangenen Tiefseebewohner vonstatten. Ebbe hat dabei die oft knifflige Identifizierung der Borstenwürmer übernommen.

Wenn sie nicht gerade unter dem „Bino“ Borsten abzählt, ist Ebbe auch noch Koordinatorin von CeDAMar (Census of the Diversity of Abyssal Marine Life), der Tiefseeabteilung eines ebenso akronymwütigen wie einzigartigen Forschungsprojekts, an dem sich über 2000 Forscher aus 80 Nationen beteiligen: dem Census of Marine Life (CoML). Das offizielle Ziel des oft als „Volkszählung im Meer“ titulierten, zehnjährigen Projekts ist nicht weniger als „die Bestandsaufnahme und Erforschung der Vielfalt, des Vorkommens und des Reichtums von Meeresleben in den Ozeanen – in der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft“.

„Ehrgeizig“ kann man das nennen, „größenwahnsinnig“ würde als Adjektiv wohl bevorzugen, wer einmal versucht hat, auch nur die Bevölkerung des heimischen Aquariums zu zählen.

„Einen wirklich vollständigen Katalog aller Arten kann niemand ernsthaft erwarten“, gibt auch Brigitte Ebbe zu. „Aber bis zum Start des Zensus vor sieben Jahren hatten wir nur eine sehr grobe Vorstellung der marinen Biodiversität, gerade was schwer zu untersuchende Lebensräume wie die Tiefsee angeht. Bis zum Auslaufen des Projekts in 2010 werden wir jedoch eine sehr viel genauere Vorstellung davon besitzen, was wo in den Meeren lebt und wie die verschiedenen Ökosysteme vernetzt sind.“

Die Wissenslücken über den mit Abstand größten Lebensraum der Erde sind immens. Über 70 Prozent ihrer Oberfläche sind vom Salzwasser der Meere bedeckt, davon wiederum sind 80 Prozent tiefer als 1000 Meter. Die Unwissenheit fängt schon bei der Geografie an. Den in diesem Zusammenhang oft gebrauchten Vergleich, dass man über die riesigen Gebiete der Tiefsee weit weniger wisse als über die Oberfläche des Mars, kann man getrost wörtlich nehmen. Denn ein Laser an Bord der erst Ende 2006 aufgegebenen Raumsonde „Mars Global Surveyor“ hat den Roten Planeten auf wenige Meter genau vermessen.

Von der Unterwassertopografie unseres Blauen Planeten kennt man dagegen nur jenen Bruchteil halbwegs genau, der von Schiffen mit Sonar ausgelotet wurde. Weltkarten des Meeresbodens beruhen dagegen auf der Radarvermessung per Satellit: Sie registriert zwar kleinste Unebenheiten der Meeresoberfläche, in denen sich Schwankungen im Schwerefeld der Erde widerspiegeln, wie sie unterseeische Gebirge hervorrufen. Allerdings ist diese Methode mit großen Unsicherheiten behaftet und verzeichnet bestenfalls Strukturen ab zwölf Kilometer Größe.

Ähnlich wenig wie über die Topografie ist über die Bewohner der Meeresböden bekannt. Während die Biologie noch relativ viel über das Leben im küstennahen Flachwasser weiß, entspricht die genauer unter die Lupe genommene Fläche in den lichtlosen Tiefen der Ozeane gerade mal der einiger Fußballfelder.

Mit solchen Argumenten überzeugte der Meeresbiologe und Zensusinitiator Frederick Grassle von der Rutgers University Mitte der Neunziger die Entscheider bei der milliardenschweren, bereits 1934 vom damaligen General-Motors-Boss gegründeten Alfred-P.-Sloan-Stiftung – seither machten sie für das auf zehn Jahre angelegte Großprojekt rund 54 Millionen Dollar für Organisation und Konferenzen locker; das Gros der insgesamt fast eine Milliarde Dollar Forschungsgelder warben die Forscher allerdings aus anderen Quellen ein. „Natürlich gäbe es auch ohne das Zensusprojekt Forschung zur marinen Biodiversität“, sagt Ebbe, „aber vor allem die Vernetzung der Forscher aus aller Welt durch Konferenzen und Workshops hat Schwung in die Sache gebracht.“

Dass der Zensus auch ein riesiger PR-Erfolg ist, verdankt er neben der Fülle neu entdeckter Arten, von denen einige hier auf diesen Seiten zu sehen sind, spektakulären Entdeckungen wie den ersten Videoaufnahmen eines lebenden Riesenkalmars Architeuthis, der japanischen Zensusforschern in 600 Meter Tiefe an die Angel ging, oder einem Schwarm von über acht Millionen Heringen, den Echolote vor der Küste New Jerseys registrierten. Schön, wenn es Meeresforschung einmal bis in die Boulevardpresse schafft, auch wenn der wissenschaftliche Wert einer Riesenkalmarsichtung nicht automatisch den einer neu entdeckten Borstenwurmart übertrifft.

„Reine Zeitverschwendung!“ hätte Plinius der Ältere angesichts des Zensus ohnehin ausgerufen. Denn in seiner „Naturalis historia“ zählte der römische Gelehrte 176 Arten von Meerestieren auf und glaubte damit das Ziel des Zensus bereits im Alleingang erreicht zu haben: „Bei Herkules, nichts existiert im Ozean, was uns unbekannt wäre!“ Plinius hätte wohl besser auf seinen griechischen Vorläufer Sokrates gehört („Ich weiß, dass ich nichts weiß“), doch bis zum Mittelalter wurde sein Artenkatalog nur zögerlich erweitert, unter anderem mit Fabelwesen und Meeresungeheuern aller Art. Wale, Fische und Krustentiere lieferten zwar auch damals schon wertvolles Protein, doch trotzdem blieb dem Menschen das Reich unterhalb der Wasseroberfläche fremd und unheimlich.

Das änderte sich ab dem 17. Jahrhundert, als Naturwissenschaftler begannen, in den gerade erst erschlossenen Weltmeeren systematisch nach neuen Tierarten zu suchen. Einer von ihnen war der Frankfurter Gelehrte Eduard Rüppell, der auf einer Forschungsreise in den Nordosten Afrikas in den Jahren von 1822 bis 1827 Tausende Bewohner des Roten Meeres fing, zeichnete und in Branntwein konserviert mit nach Hause brachte.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 63. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 63

No. 63August / September 2007

Von Georg Rüschemeyer

Der Biologe Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, ist freier Wissenschaftsjournalist und lebt im niederrheinischen Goch. Für mare schrieb er zuletzt über ein besonders gefräßiges Weichtier, den Humboldtkalmar.

Mehr Informationen
Vita Der Biologe Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, ist freier Wissenschaftsjournalist und lebt im niederrheinischen Goch. Für mare schrieb er zuletzt über ein besonders gefräßiges Weichtier, den Humboldtkalmar.
Person Von Georg Rüschemeyer
Vita Der Biologe Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, ist freier Wissenschaftsjournalist und lebt im niederrheinischen Goch. Für mare schrieb er zuletzt über ein besonders gefräßiges Weichtier, den Humboldtkalmar.
Person Von Georg Rüschemeyer