Es ist ein später Abend, als ich am Strand von Ynys Enlli sitze und ungeduldig auf die Finsternis warte, die hier so eindrücklich sein soll wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Mit der Dämmerung wird es rasch kühler, der Tag weicht vor der Nacht zurück, während sich um mich eine Ruhe ausbreitet, wie ich sie selten erlebt habe. Allenfalls ein Lüftchen geht, Wellen lecken kaum hörbar am Ufer. Zuweilen zwitschert ein Seevogel, hin und wieder blökt von fern ein Schaf, dann und wann heult am Naturhafen eine Robbe.
Ich schaue aufs Meer, das erst grau wird, ehe es ins Schwärzliche übergeht. Den ganzen Tag über habe ich mich gefragt, ob sich im Westen das 90 Kilometer entfernte Irland abzeichnet. Ein trüber Schatten schien dort auf der Irischen See zu liegen, aber auch ein Fernglas half nicht weiter. Doch jetzt, beim Untergang der Sonne, zeigen sich genau vor ihrer glühenden Scheibe für wenige Momente wellige, bergige Konturen. Es müssen die Wicklow Mountains sein, eine bis zu 1000 Meter hohe Bergkette im Osten Irlands.
Ein letztes Mal flammen am westlichen Horizont orange und rote Farbtöne auf, bevor auch sie verblassen. Über mir zeigt sich der Himmel nun in einem satten Dunkelblau. Nicht eine Wolke schwebt in der Atmosphäre, es dürfte sich in dieser Nacht also ein ungeheurer Blick ins Universum eröffnen.
Seit knapp drei Jahren zählt die walisische Insel Enlli zu den dunkelsten Orten der Erde. Die Organisation DarkSky International, die sich seit gut vier Jahrzehnten dem Schutz der Dunkelheit verschrieben hat, erklärte das Eiland im Februar 2023 zum ersten europäischen „Dark Sky Sanctuary“, einem besonders finsteren Refugium der Nacht (kürzlich hat diesen Status auch das schottische Eiland Rùm erhalten). Von diesen Lichtschutzgebieten der höchsten Kategorie hat die Nichtregierungsorganisation bislang weltweit erst 22 weitere benannt, darunter Inseln in Ozeanien und abgelegene Gebiete in Südafrika. Dort gibt es nicht nur grandiose Sternennächte, sondern auch eine fragile, schützenswerte nächtliche Natur.
Dass Ynys Enlli (walisisch für „Insel Enlli“) zu diesen besonderen Orten gehört, liegt an ihrer Lage und Topografie: Der größte Teil der Insel wird von einem Berg vor künstlichem Licht abgeschirmt, das aus dem 110 Kilometer entfernten Dublin oder vom walisischen Festland kommen könnte. Zudem fahren auf der Irischen See, in der das Eiland liegt, kaum Frachtschiffe. Und nicht zuletzt leben kaum Menschen auf der Insel. Es ist hier, wie man in Wales sagt, „so finster wie im Magen einer Kuh“. Enlli ist damit ein Vorposten gegen den globalen Trend der steigenden Lichtverschmutzung; denn die nimmt von Jahr zu Jahr weltweit um acht Prozent zu.
Und das ist erheblich. Während man mit bloßem Auge an Orten wie Ynys Enlli nachts Tausende Sterne am Firmament erkennt, sind es über vielen Kleinstädten nur noch gut 250 – ein Wert, der sich aus Messungen ableiten lässt. Weltweit leben vier von fünf Menschen – und in Europa nahezu jeder – unter einem von künstlichen Lichtern erhellten Nachthimmel. Mit der Lichtverschmutzung verschwindet der uralte Rhythmus von Tag und Nacht, den Mensch und Natur im Lauf der Evolution verinnerlicht haben. Übrig bleiben helle Tage und nächtliche Dämmerzustände. Vom Weltraum aus betrachtet, wirkt die Erde wie eine immer heller strahlende Glühbirne.
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Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, Autor in München, fühlte sich auf Ynys Enlli an seine Kindheit in einem Dorf erinnert. Dort konnte er nachts oft die Milchstraße sehen. 2020 erschien bei Malik sein Buch „Streifzüge durch die Nacht“.
Emile Ducke, geboren 1994, Fotograf in Tiflis, Georgien, staunte darüber, wie scharf sich im Mondlicht sein Schatten auf Enlli abzeichnete – und wie schlagartig er verblasste, sobald Wolken aufzogen.
| Vita | Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, Autor in München, fühlte sich auf Ynys Enlli an seine Kindheit in einem Dorf erinnert. Dort konnte er nachts oft die Milchstraße sehen. 2020 erschien bei Malik sein Buch „Streifzüge durch die Nacht“. Emile Ducke, geboren 1994, Fotograf in Tiflis, Georgien, staunte darüber, wie scharf sich im Mondlicht sein Schatten auf Enlli abzeichnete – und wie schlagartig er verblasste, sobald Wolken aufzogen. |
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| Person | Von Dirk Liesemer und Emile Ducke |
| Vita | Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, Autor in München, fühlte sich auf Ynys Enlli an seine Kindheit in einem Dorf erinnert. Dort konnte er nachts oft die Milchstraße sehen. 2020 erschien bei Malik sein Buch „Streifzüge durch die Nacht“. Emile Ducke, geboren 1994, Fotograf in Tiflis, Georgien, staunte darüber, wie scharf sich im Mondlicht sein Schatten auf Enlli abzeichnete – und wie schlagartig er verblasste, sobald Wolken aufzogen. |
| Person | Von Dirk Liesemer und Emile Ducke |