Ins Wasser gehen

Shakespeares Ophelia hat sie berühmt gemacht: die Wasserleiche. Aber nicht erst seit ihr beschäftigt der Tod im Wasser Dichter und Künstler. Die etwas beunruhigende Kulturgeschichte einer Todesart

Die Wasserleiche ist eine schöne Tote, blass, von entrückter Reinheit, ein elfenhaftes Wesen, engelgleich, leicht wie eine Seerose. So zeigen sie die Maler. Die Wasserleiche beschert einen grauenvollen Anblick, aufgequollen, unförmig und zerbeult, ein sich zersetzender Körper, die Haut löst sich vom Fleisch wie ein schrumpeliger Gummihandschuh, schreckliche Verfärbungen verunstalten das, was einst ein intakter Leib gewesen ist. Das wissen die Pathologen. Ins Wasser gehen ist ein friedvoller Tod, ein sanftes Hinübergleiten in die andere Welt, ein sich Auflösen, Einswerden mit den Elementen, sich dem Kreislauf des Wassers hingeben, über die Seen und Flüsse in die Meere ziehen, versinken in der angenehmen, tröstlichen Stille. Das fantasieren die Romantiker. Ertrinken ist ein brutaler Tod, denn wer ertrinkt, der erstickt. So sagen es die Mediziner.

Keine Suizidmethode ist derart emotional besetzt wie der Wassertod. Durch alle Kulturen und Zeiten hindurch gingen Menschen in ihrer Not ins Wasser, haben andere Menschen ihre Leichname gefunden, sie begraben oder auch nicht, über sie geredet, sie verachtet oder bewundert, gar Kultfiguren aus ihnen gemacht. Schon die antike Sagenwelt berichtet von Suizidenten wie Ägeus, der sich vor Kummer ins Meer stürzte, weil er seinen Sohn Theseus tot glaubte. Die Ägäis hat ihren Namen von einem Suizidenten erhalten.

„Selbstmörder ist man lange bevor man sich umbringt“, schrieb Jean Améry 1976 in seinem Essay „Hand an sich legen“, diesem großen Text über den freiwilligen Tod, der bis heute zum Eindringlichsten gehört, was zu dem Thema geschrieben worden ist. Wer für sich die Tür zur letzten Möglichkeit einmal gedanklich aufgestoßen habe, für den sei das Leben danach ein anderes. Von Trunkenheit spricht Améry, von einem Rausch, einem selbst gewählten Freiheitserleben, der Wassertod ist ihm verlockend. „Oder Ertrinken, irgendwo an der Nordseeküste. Wasser an den Beinen, Wasser, das langsam steigt, zur Brust, über sie hinaus, an die Lippen. Der Kopf wird noch eine Weile oberhalb der Wellen bleiben wollen, voll bis zum Zerspringen von gurgelnder Flutenmusik. Bis er verschwindet, und was die Leute dann an den Strand ziehen, ist eine Sache, une chose, kein ,Ertrunkener‘, sondern ein Etwas, das mit Mensch und Ich nichts mehr zu tun hat.“

Gründe

Warum ins Wasser gehen? Die Realität ist nicht romantisch. Die Gründe für einen Freitod sind vielfältig, die Entscheidung für das Wasser in der Regel eine sachliche, eine praktische. Das Wasser ist einfach da, für jeden zugänglich. Es ist geradezu nahe liegend. Früher war der Wassertod ein Armentod. Wer keine Pistole besaß und kein Gift, keinen Gasherd oder keinen offenen Balken, um den sich ein Strick binden ließ, für den war der Fluss, der See oder das Meer die einfachste Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen. Des Schwimmens unfähig waren die meisten Menschen noch bis vor nicht allzu langer Zeit. Warum also ins Wasser gehen? Die Dichter wussten angeblich Antwort auf diese Frage, Liebesleid war bei ihnen einer der häufigsten Gründe. Bei dem Lyriker Georg Heym etwa heißt es an einer Stelle in „Tod der Liebenden“:

Wir werden immer beieinander bleiben
Im schattenhaften Walde auf dem Grunde.
Die gleiche Woge wird uns dunkel treiben,
Und gleiche Träume trinkt der Kuss vom Munde.

Den Kummer des Herzens hat kaum jemand anrührender geschildert als der Schweizer Dichter Gottfried Keller in seiner Erzählung von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Die Väter heillos wegen eines Ackers zerstritten, sehen die verliebten Kinder keinen anderen Weg, als sich auf einem Floß in den Fluss zu begeben und im Mondschein gemeinsam ins Wasser zu fallen, nach einer, der ersten und zugleich letzten, Liebesnacht.

Was bei Keller gnädig als Liebestod durchgehen kann, wird bei Hermann Hesse zu einer Anklage an die Gesellschaft. Wie bei Keller ist auch in Hesses Roman „Unterm Rad“ der Druck des Vaters auf den Sohn das ausschlaggebende Moment. Der zarte Hans, der oft „erschöpft“ ist und unter „nervösen Schwächezuständen“ leidet, gar in einen „langdauernden Weinkrampf“ ausbricht, ist alles andere als ein Jugendlicher, der sich auflehnt. Er ist passiv, lernt fleißig, wie die Autoritäten es fordern – und bricht zusammen. Schließlich lässt sich der Junge ins Wasser fallen, wird mitgenommen vom Fluss. Hesse wusste, worüber er schrieb: Als Jugendlicher melancholisch, heute würde man sagen: depressiv, flüchtete der fast 15-Jährige am 7. März 1892 aus dem verhassten Maulbronner Klosterseminar. Am Tag zuvor hatte er ein Gedicht geschrieben, das seine suizidale Neigung und die fortwährende Faszination für Gewässer schon enthielt:

Ich steh allein auf dem Berge,
Allein mit all meinem Weh,
Und schaue hinab in die Weiten,
Hinaus in den ruhigen See,
Der See ist so blau wie der Himmel;
Da wird mir so eigen zumut,
Als sollt’ ich hinein in die Fluten,
als wäre dann alles gut.


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mare No. 70

No. 70Oktober / November 2008

Von Zora del Buono

Als Zora del Buono 2001 vom marebuchverlag den Auftrag bekam, eine Kulturgeschichte des Wassersuizids zu schreiben, war sie begeistert. Sie zog sich nach Venedig zurück und erarbeitete ein Konzept. Das Buch wurde nie vollendet – ihr gefiel der Tonfall nicht: zu ironisch angesichts des tragischen Themas. Sie legte die Arbeit beiseite und überraschte den Verlag Jahre später mit einem Roman, in dem sie das Thema verarbeitet hatte. Canitz’ Verlangen erschien diesen September.

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Vita Als Zora del Buono 2001 vom marebuchverlag den Auftrag bekam, eine Kulturgeschichte des Wassersuizids zu schreiben, war sie begeistert. Sie zog sich nach Venedig zurück und erarbeitete ein Konzept. Das Buch wurde nie vollendet – ihr gefiel der Tonfall nicht: zu ironisch angesichts des tragischen Themas. Sie legte die Arbeit beiseite und überraschte den Verlag Jahre später mit einem Roman, in dem sie das Thema verarbeitet hatte. Canitz’ Verlangen erschien diesen September.
Person Von Zora del Buono
Vita Als Zora del Buono 2001 vom marebuchverlag den Auftrag bekam, eine Kulturgeschichte des Wassersuizids zu schreiben, war sie begeistert. Sie zog sich nach Venedig zurück und erarbeitete ein Konzept. Das Buch wurde nie vollendet – ihr gefiel der Tonfall nicht: zu ironisch angesichts des tragischen Themas. Sie legte die Arbeit beiseite und überraschte den Verlag Jahre später mit einem Roman, in dem sie das Thema verarbeitet hatte. Canitz’ Verlangen erschien diesen September.
Person Von Zora del Buono