Ins Paradies vertrieben

Nach Hitlers Machtergreifung im März 1933 fanden viele deutsche Schriftsteller und Intellektuelle Zuflucht in Sanary-sur-Mer an der Côte d’Azur. Prominentester Exilant war Thomas Mann

Noch Monate später wunderte sich Thomas Mann. „Wie merkwürdig!“, sagte er zu seinem Kollegen René Schickele. „Man verlässt sein Vaterland, um in Amsterdam und Paris über Richard Wagner zu sprechen, und als man zurückwill, ist es einem davongelaufen.“ Am 11. Februar 1933, nur zwölf Tage nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, waren Thomas und Katia Mann zu einer Vortragsreise ins Ausland aufgebrochen. Und dort, in Sèvres bei Paris, erfuhren sie von ihren beiden ältesten Kindern Erika und Klaus, was seine Wagner-Rede bewirkt hatte: Es gab einen Haftbefehl und eine Kampagne gegen ihn, den Nobelpreisträger. Sie sollten bitte nicht in ihr Haus in München zurückkehren, drängten Klaus und Erika.

Die Eltern hielten sich daran, verbrachten einige Zeit, wie ohnehin vorgesehen, mit den beiden jüngsten Kindern Elisabeth und Michael in Lugano in der Schweiz. Dort erreichte ihn auch ein Brief des Kollegen Schickele, der ihnen von einem Ort in Südfrankreich vorschwärmte. „Es gibt eingesessene Deutsche in Sanary, aber das sind lediglich Sonnenanbeter, die meisten kennen wir nicht, und die wir kennen, sehen wir nicht.“ Thomas Mann schrieb, er brauche ein Haus mit sechs Räumen, ferner Badezimmer und saubere Toiletten.

Erika und Klaus Mann reisten den Eltern voraus an die Côte d’Azur und halfen Schickele bei der Suche. Das kokette Geschwisterpaar hatte bereits 1931 einen im ironischen Plauderton verfassten Reiseführer über die Küste veröffentlicht. „Sanary scheint zunächst durchaus das freundliche und intime Hafenstädtchen, wie es deren an der Riviera viele gibt“, heißt es darin. Tatsächlich handele es sich um den Sommertreffpunkt der pariserisch-berlinerisch-schwabingerischen Malerwelt sowie der angelsächsischen Boheme. Die Stimmung sei einzigartig, und das Gelächter der Menschen in den Straßencafés mische sich mit dem Schmunzeln der südfranzösischen Spießer, die ihren Aperitif an der Bar genössen. Die Frauen trügen eine leichte und schöne Sommeruniform, worunter weite Matrosenhosen, runde Mützen sowie breit gestreifte, kurzärmelige Trikotsweater zu verstehen seien. Ihre hymnische Reisebeschreibung gipfelte in dem prophe­tis­chen Satz: „Diese Sanary-Sommer werden in die Kunstgeschichte eingehen (und vielleicht auch in die Chronique scandaleuse der großen europäischen Boheme).“

Jetzt allerdings sorgten sie sich um die Eltern, besonders um den Vater. Einer Freundin schrieb Klaus Mann: „Die nächs­ten Wochen werden wir wahrscheinlich in Sanary sein, wo sich die armen Eltern etwas mieten wollen; (für den Zauberer ist es ja besonders scheußlich – er kann nicht umhin, sich irgendwie verantwortlich für Deutschland zu fühlen, und eigentlich kann er ja auch ohne Deutschland nicht leben).“

Als Thomas und Katia Mann mit den beiden jüngsten Kindern am 10. Mai ankamen, war noch keine Unterkunft gefunden. Sie mieteten sich deshalb im „Grand Hôtel“ im nahen Bandol ein. Dort kehrte sechs Tage später auch der ältere Bruder Heinrich ein. Für ihn, der Frankreich seit Langem bewunderte, war der Sprung ins Exil ein kleiner. Seine größte Enttäuschung war, wie er schon 1931 im geliebten Nizza festgestellt hatte, dass es an der Côte d’Azur keine Modebäder mehr gab. „Die junge, bewegliche Welt ist überall und nirgends, gestern beim Tennisturnier in Cannes, morgen in Monte Carlo zu den fabelhaften Autorennen.“ 

Thomas Mann haderte die ersten Tage heftig. Alles sei „schäbig, wackelig, unkomfortabel und unter meinem Lebens­niveau“. Wenigstens fand Katia ein hübsches Haus etwas außerhalb von Sanary auf einer Anhöhe mit weitem Blick über das Mittelmeer. Die erhabene Aussicht aufs azurblaue Wasser dürfte ihn an sein Haus in Nidden erinnert haben. Die „Villa Tranquille“, in die sie Anfang Juni an ­seinem 58. Geburtstag einzogen, gehörte der Schwiegermutter des deutschen Botschafters in Kairo, was Thomas Mann sehr passend fand, weil er an einem Roman schrieb, der in Ägypten spielte. Es war zudem ansprechend eingerichtet und im günstigen Preis sogar eine Hausangestellte inbegriffen. Dass seine Vermieter als Agenten den Hafen von Toulon ausspionierten, sollte er nie erfahren.

Während sich die 15-jährige Elisabeth und der 14-jährige Michael sofort wie in den Sommerferien fühlten, gewöhnte sich ihr Vater erst allmählich ein. Zwar empfand er das Klima als „höchst liebenswürdig“, seinen Geist jedoch als träge. Zu seiner Freude zog in der Villa schräg gegenüber ein Münchner Bekannter ein: sein einziger Duzfreund, der jüdischstämmige Schriftsteller Bruno Frank mit seiner Frau Liesl. Sie hatten in der Nacht des Reichstagsbrands ihre Flucht beschlossen.

Unzählige Intellektuelle verließen in diesen Monaten die Heimat. Fast alle brachen dabei ohne große Vermögen in die Fremde auf. Einige wanderten wie Else Lasker-Schüler nach Palästina aus, andere zog es nach Sanary-sur-Mer, wovon einer dem anderen berichtete. Immerhin lag es nicht allzu weit von der Heimat entfernt. Man hätte also rasch zurückkehren können, wenn Hitler denn wie all die Kanzler vor ihm bald wieder verschwunden wäre. Und so kamen mit der Zeit insgesamt 68 Künstler und Schriftsteller, darunter Lion Feuchtwanger, Annette Kolb, Bertolt Brecht, Erich Maria Remarque und später auch Franz Werfel und Alma Mahler nach Sanary mit seinen damals gut 4000 Einwohnern.


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mare No. 161

mare No. 161Dezember 2023 / Januar 2024

Von Dirk Liesemer

Autor Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, sprach in Sanary-sur-Mer auch mit Frido Mann, der es ­bezeichnend fand, wo sich dessen Großvater Thomas dort ein Haus gemietet hatte: auf einer Anhöhe mit Blick auf das Meer – ähnlich wie zuvor in Nidden an der Ostsee und später in Pacific Palisades in Kalifornien.

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Vita Autor Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, sprach in Sanary-sur-Mer auch mit Frido Mann, der es ­bezeichnend fand, wo sich dessen Großvater Thomas dort ein Haus gemietet hatte: auf einer Anhöhe mit Blick auf das Meer – ähnlich wie zuvor in Nidden an der Ostsee und später in Pacific Palisades in Kalifornien.
Person Von Dirk Liesemer
Vita Autor Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, sprach in Sanary-sur-Mer auch mit Frido Mann, der es ­bezeichnend fand, wo sich dessen Großvater Thomas dort ein Haus gemietet hatte: auf einer Anhöhe mit Blick auf das Meer – ähnlich wie zuvor in Nidden an der Ostsee und später in Pacific Palisades in Kalifornien.
Person Von Dirk Liesemer