In aller Welt und nirgends zu Hause

Bleiben oder gehen? Diese Frage stellte sich Tausenden Deutschen, die unter der Verfolgung der Nazis zu leiden hatten. Viele von ihnen entschieden sich für die Flucht über Meere und kulturelle Grenzen. Fotograf Stefan Moses setzte die Heimkehrer ins Bild

Willy Brandt

April 1933 – die Nazis festigten gerade ihre Macht und jagten politische Gegner – brachte ein Kutter den 19-jährigen Jungsozialisten Herbert Frahm von Travemünde auf die dänische Insel Lolland. So begann die Emigration des Mannes, der sich fortan Willy Brandt nannte.

Er lebte die meiste Zeit in Oslo, formal als Student der Geschichte, in Wahrheit als Verfasser von Zeitungsartikeln über Deutschland, als Referent der Norwegischen Arbeiterpartei. Er war Berichterstatter im Spanischen Bürgerkrieg und mehrere Monate in Hitlerdeutschland zu Treffen mit der illegalen Opposition. Nach der Besetzung Norwegens ließ er sich in norwegischer Uniform gefangen nehmen, wurde nicht als Deutscher erkannt und konnte bald nach Schweden entkommen.

Unmittelbar nach Kriegsende kehrte Brandt als Korrespondent für skandinavische Zeitungen nach Deutschland zurück. 1948 erhielt der von den Nazis Ausgebürgerte seine deutsche Staatsangehörigkeit zurück. 1949 begann er seine politische Karriere in Berlin.

Als Brandt 1961 Kanzlerkandidat der SPD wurde und 1965 zum zweiten Mal antrat, stellten seine politischen Gegner die Emigration als eine Art Austritt aus der Volksgemeinschaft in den Mittelpunkt einer Diffamierungskampagne.

Konrad Adenauer sprach wiederholt von „Brandt alias Frahm“, der „Bayern-Kurier“ druckte ein Bild von ihm als „norwegischer Major bis 1947“, Ludwig Erhard strich heraus, dass er sich schon um die D-Mark gekümmert habe, „als Brandt seinen Fuß noch nicht auf deutschen Boden gesetzt hatte“. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident von Hassel charakterisierte das Verächtliche eines Emigranten folgendermaßen: „Ich verleugne nicht meine Volks- und Staatsangehörigkeit persönlicher oder sonstiger Vorteile wegen. Ich kann diese Schicksalsgemeinschaft nicht verlassen, wenn es mir persönlich gefährlich erscheint, und ihr wieder beitreten, wenn das Risiko vorüber ist.“ Bundestagsvizepräsident Jaeger entdeckte gar Parallelen zwischen Brandt und Hitler: „Wenn es ihn wie weiland Adolf Hitler, dessen Familienname eigentlich Schicklgruber war, danach gelüstet, unter einem fremden Namen in die Geschichte einzugehen, so ist dies das Geringste, was uns an seinem Vorhaben stören könnte.“ Und Franz Josef Strauß formulierte in einer Rede süffisant: „Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.“

Egon Bahr, Brandts Vertrauter und Weggefährte, schrieb dazu: „Es ist anzunehmen, dass die Diffamierungskampagne nicht betrieben wurde, um Brandt zu nützen. Wenn die Initiatoren dagegen geglaubt haben, diese Kampagne nütze ihnen, dann müssen sie der Meinung gewesen sein, es lohne, an bestimmte Instinkte zu appellieren. Die ganze Kampagne war ja nur sinnvoll, wenn man glaubte, eine große Zahl von Menschen lehne Emigranten ab, betrachte den Spanischen Bürgerkrieg als eine Sache, bei der die Legion Condor auf der richtigen Seite gekämpft hat, und den Hitlerkrieg als einen Krieg des deutschen Volkes.“

Raus aus Hitlerland. Über die Grenze, irgendeine. Irgendwohin, wo nicht Verschleppung ins Konzentrationslager drohte. Über Nacht waren sie nach der Machtergreifung der Nazis 1933 zu Verfolgten geworden und suchten ihr Heil in der Flucht. Die billigen Hotels in Prag, Paris und Amsterdam füllten sich mit deutschen Juden, Kommunisten, Sozialisten und Demokraten. Rund eine halbe Million Deutsche ging in die Emigration. Mancherorts bildeten sich regelrechte Exilantenkolonien wie im südfranzösischen Sanary-sur-Mer.

Doch die Nachbarländer Deutschlands boten nicht lange Schutz. Der Kriegsbeginn 1939 zwang zur Fortsetzung der Flucht. Aber jetzt musste nicht nur eine Grenze überwunden werden, sondern oft genug das Meer. Die Ostsee, um Skandinavien zu erreichen, die Nordsee, um nach England zu kommen, der Atlantik, um Zuflucht auf dem amerikanischen Kontinent zu finden, der Pazifik, um ins sichere Australien zu gelangen.


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mare No. 109

No. 109April / Mai 2015

Von Peter Sandmeyer und Stefan Moses

Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, ist promovierter Kulturwissenschaftler und Autor in Hamburg. Eine umfangreiche Darstellung von Stefan Moses’ Emigrantenporträts und -biografien zeigt das Buch Stefan Moses. Deutschlands Emigranten, das 2013 im Schweizer Verlag Nimbus erschienen ist.

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Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, ist promovierter Kulturwissenschaftler und Autor in Hamburg. Eine umfangreiche Darstellung von Stefan Moses’ Emigrantenporträts und -biografien zeigt das Buch Stefan Moses. Deutschlands Emigranten, das 2013 im Schweizer Verlag Nimbus erschienen ist.
Person Von Peter Sandmeyer und Stefan Moses
Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, ist promovierter Kulturwissenschaftler und Autor in Hamburg. Eine umfangreiche Darstellung von Stefan Moses’ Emigrantenporträts und -biografien zeigt das Buch Stefan Moses. Deutschlands Emigranten, das 2013 im Schweizer Verlag Nimbus erschienen ist.
Person Von Peter Sandmeyer und Stefan Moses